Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Jüdisches Leben in Neustadt am Rübenberge“ am 9.11.2006 in Neustadt, Schloss Landestrost
Ingrid Wettberg, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover
Herr Bürgermeister Sternbeck,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Als ich gefragt wurde, ob ich heute aus Anlass der Ausstellungseröffnung „Jüdisches Leben in Neustadt“ eine Ansprache halten möchte, habe ich spontan zugesagt, denn ich habe eine recht lange Beziehung zu dieser Stadt.
Vor 30 Jahren zog ich mit meiner Familie aus dem Frankfurter Raum nach Hannover. Lange Zeit arbeitete ich als Dozentin hier an der VHS, nutzte die Geschäfte zum Einkaufen, Arzt und Friseur befanden sich hier und befinden sich immer noch hier so lag es nahe, dass das Stadtgeschehen mich auch interessierte.
So kam es auch, dass wir uns, mein Mann und ich, 1982 als Unterschriften gesammelt werden mussten, für die Anbringung einer Gedenktafel am ehemaligen Standort der Synagoge, engagiert haben und im Vorfeld einen sehr umfangreichen Schriftwechsel mit dem damaligen Bürgermeister in dieser Angelegenheit geführt haben. Befremdlich, dass Unterschriftenlisten nötig sind, 40 Jahre nach dem Holocaust um wenigstens eine Gedenktafel anbringen zu können!!
Es dauerte nochmals sehr lange bis es endlich soweit war und im November 1985 wurde in Anwesenheit des damaligen Landesrabbiners von Niedersachsen Henry Brandt eine kleine Tafel angebracht.
Meine Hochachtung gilt in diesem Zusammenhang dem Arbeitskreis Regionalgeschichte, den Initiatoren und ihrem unerschrockener Einsatz für die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels in Neustadt.
In einer kleinen Stadt, ähnlich der Stadt Neustadt, nahe Frankfurt lebten meine jüdischen Vorfahren über viele Generationen als angesehene Bürger in guter Nachbarschaft mit ihren christlichen Nachbarn bis zur Machtergreifung der Nazis. Da verwandelten sich die Nachbarn plötzlich zu Befehlsempfängern und beriefen sich auf Schreiben „von Oben mit dicken Stempeln versehen“ dass es ab jetzt leider nicht mehr möglich sei, dass mein Großvater Isaak nach 50 Jahren Zugehörigkeit im Sportverein und Gesangverein, weiterhin Mitglied sein kann, da man Juden ab jetzt nicht mehr in Vereinen dulden könne. Man handele ja nur auf Befehl!
Wie ist so etwas zu erklären? Eben noch Freund und Nachbar und innerhalb kurzer Zeit Staatsfeind Nr.1. Nun waren diese Menschen nichts anderes mehr als nur noch Juden
Keine Nachbarn mehr, keine Gesangesbrüder, keine Sportkameraden und keine Freunde mehr!
Genauso erging es auch den Birkenruths, den Rosenbaums, den Steinbergs, den Meinraths, den Sternheims und wie sie alle hier in Neustadt hießen. Sie alle wollten nichts anderes sein als gute Deutsche. Sie wollten Nachbarn und Freunde sein. Sie waren kaisertreu, zogen freiwillig in den ersten Weltkrieg, so wie mein Großvater auch. Hochdekoriert kam er zurück. Es nutzte ihm nichts.
Plötzlich sah man in den jüdischen Mitbürgern eine Gefahr für das Wohlergehen der Deutschen, befürchtete ihren zersetzenden Einfluss auf das Volksleben, angeblich strebten sie die Weltherrschaft an und hatten darüber hinaus noch einen Pakt mit den Bolschewisten geschlossen. Der tiefsitzende Antisemitismus, der schon lange schwelte brach nun offen hervor.
Nach der Reichspogromnacht blieben Millionen Menschen zu Hause und taten so, als sei nichts geschehen, als ob sie die Juden, mit denen sie gestern noch befreundet waren nicht mehr kannten. Noch schlimmer, sie bereicherten sich an deren Eigentum. Meist waren es die direkten Nachbarn, die das taten.
Die Maschinerie der Nazis lief an und überall, überall fanden sich willige Helfer. Dieser Genozid bleibt in seiner Art und Ausmaß unvergleichbar. Kommunisten, Juden, Sinti und Roma, Nichtarier, Homosexuelle, Behinderte, eigenständig kritisch Denkende: Sie alle wurden ausgegrenzt, inhaftiert und zum größten Teil umgebracht. Aber für Juden galt: Kein Jude sollte in Europa überleben.
Hannah Arend schreibt dazu:
“Noch heute ist in Deutschland die Vorstellung von den berühmten Juden nicht verschwunden. Es wird beklagt, dass Deutschland Einstein aus dem Lande gejagt hat – ohne zu begreifen, ein wie viel größeres Verbrechen es war, Hänschen Kohn von nebenan zu töten, auch wenn er kein Genie war.“ Und für Hänschen Kohn können sie unendlich viele Namen einsetzen. Deutschland judenfrei- Europa judenfrei – Das war das Ziel Hitlers und seiner Helfershelfer!
Nun sind über 60 Jahre vergangen:
Über 60 Jahre nach dem Holocaust, meinen Viele, müsse nun doch endlich einmal ein Schlussstrich gezogen werden! Uns trifft doch keine Schuld!
Menschen, die das sagen, haben mit dem, womit sie Schluss machen wollen niemals angefangen.
Lehrer wissen, was es für einen Heranwachsenden bedeutet zu erfahren, was seine Vorfahren Menschen anzutun vermochten.
Auch wenn für junge Leute dieser Genozid als ferne Vergangenheit erlebt wird, auch sie teilen die Geschichte. Es geht nicht um persönliche Schuld, sondern um Verantwortung.
Und wie erreichen wir die Jugend, die in den 70ger und 80ger Jahren geboren wurden und die keinen Kontakt mehr mit der Erlebnisgeneration haben? Wir erreichen sie nur, indem wir ihnen alles erzählen.
Professor Wolfsohn aus München sagte einmal: Voraussetzung zur Vergangenheitsbewältigung sind vier Worte: Alle fangen mit „W“ an: Wissen – Werten – Weinen – und – Wollen.
Das genaue Wissen, wie es zu dieser Katastrophe kam, das richtige Werten dieser Ereignisse und Weinen um die Toten. Und, für mich das wichtigste: Wollen – den festen Willen haben und sich mit ganzer Kraft dafür einzusetzen, dass sich so etwas nie wieder wiederholen kann.
Ja, mit dem Erinnern, mit dem Weinen ist das so eine Sache. Irgend etwas läuft da schief. Wolfgang Benz, Historiker und Antisemitismusforscher aus Berlin verweist auf die Arbeitsteilung, in der die deutsche Gesellschaft seit 1945 verfangen ist: Für das Erinnern seien an den dafür vorgesehenen Tagen nur ganz wenige zuständig.
Keine Kranzniederlegung am 9. November ohne die Rede von der Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens und so weiter und so weiter………alles in allem dauert eine solche Kranzniederlegung 15 Minuten. Ich habe es gerade heute morgen in Hannover am Standort der ehemaligen Synagoge in der Roten Reihe erlebt.
Die anderen gehen auch an diesen Tagen ihren Geschäften nach. Wie interessant könnte es aber sein, wenn sich am 27 Januar, am Holocaustgedenktag, oder am 9. November einmal ein Fußballverein sich des Themas annehmen würde oder der Meister in der Werkstatt an dem Tag seinen Lehrlingen vorschlägt: “Wir sollten darüber nachdenken!“ Das Gedenken also in die gesamte Bevölkerung getragen wird. Wir brauchen Rituale, keine Frage, aber die richtigen.
Gedenken heißt auch Erinnern. Wir, in der jüdischen Gemeinschaft haben von Kindheit an gelernt, dass Erinnern ein wichtiger Bestandteil unserer Geschichte ist. Der Talmud lehrt:“ Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Wir sind es den Opfern der Shoa schuldig, sie und ihre Leiden niemals zu vergessen. Wer sie vergisst tötet sie noch einmal.
Und so finde ich diese Ausstellung eine ganz hervorragende Sache. Es wird nicht anonym gedacht—es wird konkret erinnert an die Schlachterei Meinrath, an das Bankhaus Meinrath, an den Weinhandel Leopold Schloss, an das Konfektionsgeschäft Leo Steinberg u.s.w. Diese Neustädter Bürger bekommen wieder ein Gesicht.
Der Gruppe Weiße Rose und dem Arbeitskreis Regionalgeschichte und der Stadt Neustadt gilt meine ganze Anerkennung für die Initiative dieser Ausstellung..
Nun wird aber auch diese Ausstellung irgendwann im Archiv verschwinden. Wichtig ist, dass die Ermordeten Neustädter Bürger in den Köpfen der Menschen präsent bleiben. Es gibt eine vielbeachtete Aktion, die ich schon sehr oft begleitet habe. Die Aktion „Stolpersteine“, von einem Kölner Künstler initiiert. In über 50 Städten Deutschlands sind diese kleinen 10 mal 10 Zentimeter großen Pflastersteine mit Inschrift dort verlegt worden, wo diese Menschen einmal gelebt haben.
Auch ist es ja seit Jahren ein Thema in Neustadt, ob man nicht Strassen nach ehemaligen Neustädter Bürgern benennt. Eine gute Idee. Sie sollte unbedingt in die Tat umgesetzt werden.
60 Jahre nach dem Holocaust ist man noch beschäftigt mit der Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der deutsche Geschichte . Heute leben wieder Juden in Deutschland. Auch hier in Neustadt. Hier sind es Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Dort wurde ihnen 70 Jahre lang verboten ihre Religion auszuüben. In der ehemaligen Sowjetunion war Jude sein eine Nationalität. Alle Juden mussten in ihrem Pass den Stempel Hebräer tragen. Sie wurden diskriminiert, verfolgt und ausgegrenzt. Seit 1989 wird ihnen die Ausreise gestattet. Viele kamen nach Deutschland. Ohne diese Zuwanderung gäbe es heute kein jüdisches Leben hier in Deutschland. Ich selbst bin Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover. Wir haben über 500 Mitglieder wovon über die Hälfte Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion sind. Diese Menschen müssen sich hier erst ein Leben aufbauen. Und sie hoffen hier ohne Diskriminierung und Verfolgung leben zu können. Manche scheuen sich zu sagen, dass sie Juden sind. Sie erleben erschrocken den anwachsenden Antisemitismus hier in Deutschland.
Ich persönlich lebe ganz bewusst mit meiner Familie hier, als Deutsche und als Jüdin.
Meine Vorfahren lebten über Jahrhunderte nahe Frankfurt als angesehene Bürger und sie dachten nicht daran auszuwandern. Als sie aber merkten, dass es zu spät ist, wollte niemand sie mehr aufnehmen, auch das Ausland verschloss seine Tore und so wurden sie alle in Auschwitz, Kaunas, Theresienstadt und Riga umgebracht. Ihr Vergehen lautete: Sie waren Juden – nicht mehr und nicht weniger!
Und wo stehen wir heute? Können sich Juden hier wieder zu Hause fühlen???? Keine nachrangige Frage, sondern die Glaubwürdigkeitsfrage unserer deutschen Demokratie schlechthin.
Die Zahl der rechtsextremen und antisemitischen Straftaten nimmt rapide zu.
Die Neonazis sind erneut in einen Landtag eingezogen, die rassistischen Übergriffe auf den Fußballplätzen haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen, Bücher von Anne Frank werden wieder verbrannt und beim letzten Länderspiel in der Slowakei wurde mitten im offiziellen Fanblock die „Reichskriegsflagge“ geschwenkt.
Was mich frustriert sind die Rituale der Hilflosigkeit auf solche Ereignisse, das Fabulieren über die Motive der Täter, das Wegsehen und die Gleichgültigkeit gegenüber der Opfer.
Warum versetzen wir die Staatsgewalt nicht in de Lage , mit allen rechtsstaatlichen Mitteln gegen rechte Gewalttäter vorzugehen?? Warum solidarisieren wir uns nicht sichtbar mit den Opfern, auch wenn es „nur“ Äthiopier oder Vietnamesen oder Juden sind??
Alles kann man nicht verhindern, aber immerhin aktiv mithelfen den braunen Rand möglichst schmal zu halten. Und da ist jeder aufgerufen.
Ich lade sie ein, einmal in unsere Gemeinde zu kommen. Dort können sie sich ganz sicher fühlen. Wir haben schusssichere Folie vor den Fenstern und Schlösser an den Fenstern, 5 Notknöpfe zur Polizei, wobei ein Notknopf direkt am Thoraschrank angebracht ist, vier Videoüberwachungsanlagen, jede Besuchergruppe muss ich der Polizei melden und jede Veranstaltung wird polizeilich bewacht.
Nicht dass sie denken, dass wir das freiwillig machen. Das wird uns vom Innenministerium vorgeschrieben. So müssen Juden im Jahr 2006 in Deutschland geschützt werden.
Ist das normal??? Nein, das ist es wahrlich nicht.
Wie es weitergehen wird ist ungewiss. Die sehnsüchtig diskutierte Normalität gibt es noch nicht. Die Vorstellungen von Juden, die kursieren haben mit der Realität wenig zu tun. Einer repräsentativen Umfrage zufolge sind 20% aller Deutschen antisemitisch eingestellt. Mehr als 60 Jahre nach der Shoa sind offensichtlich tiefsitzende Vorurteile virulent. Nach dem Verbrechen der Shoa ist Antisemitismus in den aufgeklärten Teilen der westlichen Gesellschaft tabu. Das bedeutet jedoch keinesfalls dass die Vorurteile verschwunden sind. Und Vorurteile haben ein zähes Leben. Hier liegen die entscheidenden Aufgaben, an denen Christen und Juden und alle anderen Menschen zusammen wirken müssen. Der Kampf gegen das Vorurteil, der Dialog der Glaubensgemeinschaften und vor allem das Gespräch von Mensch zu Mensch sind ein mühsamer, aber der einzig Erfolg versprechende Weg zur Normalität.
Vielleicht werden meine Enkel sie einmal erleben. Ich allerdings habe mir vorgenommen, alles was in meiner Macht steht dazu beizutragen.
Normalität kann man nicht herbeireden man muss sie leben.
Lassen sie es uns gemeinsam versuchen.
Ein Beitrag zur Aufarbeitung ist die Ausstellung „Jüdisches Leben in Neustadt“
Ich wünsche dieser Ausstellung viel Erfolg. Mögen alle Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrern dieser Stadt sie besuchen, alle Sportvereine und Initiativgruppen. Jeder Bürger sollte sehen.