Vom Fliegerhorst Wunstorf auf die Schlachtfelder der Welt

Hubert Brieden

Ruinen in Gernika/Guernica nach dem Bombardement am 26. April 1937 durch Ju 52- und Heinkel 111-Maschinen, geflogen u.a. von Besatzungen, die auf den Fliegerhorsten Wunstorf und Langenhagen (Region Hannover) ausgebildet worden waren.
Ruinen der baskischen Stadt Gernika (Guernica) nach dem Bombenangriff der Legion Condor am 26. April 1937. Auch Besatzungen vom Fliegerhorst Wunstorf waren beteiligt.

26. April 1937: Bodenperspektiven1

„Es war ein wunderbarer (…) Tag, der Himmel war weich und klar. Wir kamen in den Vororten von Guernica gegen 5 Uhr an. In den Straßen war viel Betrieb, es war Markttag. Plötzlich hörten wir die Sirene, und wir bekamen Angst. Die Leute liefen in alle Richtungen davon und ließen alles stehen und liegen, um Schutz zu suchen. Manche rannten auch in die Berge. (…) Kurz darauf sah ich sieben Flugzeuge, auf die sechs weitere folgten, dann kamen noch einmal fünf. Alle waren Junkers-Maschinen. Unterdessen war ganz Guernica von einer Panik ergriffen. Mehr als eine Stunde blieben die Maschinen in einer Höhe von wenigen hundert Metern über Guernica, und sie warfen Bombe auf Bombe. Von dem Lärm der einstürzenden Häuser macht man sich keinen Begriff. Sie flogen über Straßenzüge hin. Sehr viele Bomben fielen. Scheinbar überall, später sahen wir die Krater. Sie hatten einen Durchmesser von sechzehn Metern und waren acht Meter tief. Gegen 7 Uhr flogen die Maschinen ab, und nun kam eine neue Welle, die diesmal in sehr großer Höhe flog. Die zweite Welle warf Brandbomben auf unsere gemarterte Stadt. Das zweite Bombardement dauerte fünfunddreißig Minuten, aber es reichte hin, um den ganzen Ort in einen gewaltigen Feuerofen zu verwandeln.

Der Angriff und die Zerstörung der Stadt hielten noch weitere zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten an. Als das Bombardement vorbei war, kamen die Leute aus ihren Schutzräumen. Keiner weinte. Verwunderung stand auf ihren Gesichtern. Einfach keiner von uns konnte begreifen, was er das sah.“

So der baskische Priester Alberto de Onaíndia.

26. April 1937: Luftperspektiven

„Die K88 griff im Gruppenkeil Guernica an. Hierbei war meine I./K88 mit dem Kommandeur Fuchs in meiner Führungsmaschine an Bord die Führungsstaffel. Das Ziel wurde in einem Anflug mit 50 kg-Bomben m.V. (enger Reihenabstand) – Angriffshöhe l .500 NN – angegriffen. Wetter: blauer Himmel, Angriffsrichtung: von der Biskaya-Küste eindrehend von N nach S. Durch wohl NO-Schiebewind Verlagerung der Bombenreihen nach Westen, so dass z.T. der Ortsrand des Ortes getroffen wurde.“ So erinnerte sich Oberleutnant von Knauer Jahrzehnte später an seinen Einsatz über Gernika. Vor seinem Einsatz als Kampfflieger der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg war er auf dem Fliegerhorst Wunstorf in der 6. Staffel 154 Kampfgeschwader Boelcke stationiert gewesen. In einem Bericht an den für den Spanieneinsatz zuständigen Sonderstab W. urteilte Oberst Jaenecke: „An und für sich war Guernica ein voller Erfolg der Luftwaffe.“ Und Legion-Condor-Kommandeur v. Richthofen notierte am 30.4.1937 in sein Tagebuch: „Guernica, Stadt von 5000 Einwohnern, buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Angriff erfolgte mit 250 kg- und Brandbomben, letztere etwa 1/3. Als die 1. Ju’s kamen war überall schon Qualm (…), keiner konnte mehr Straßen-, Brücken- und Vorstadtziel erkennen und warf nun mitten hinein. Die 250er warfen eine Anzahl Häuser um und zerstörten die Wasserleitung. Die Brandbomben hatten nun Zeit, sich zu entfalten und zu wirken. Die Bauart der Häuser: Ziegeldächer und Holzfachwerkhäuser, führte zur völligen Vernichtung. – Einwohner waren größtenteils eines Festes wegen außerhalb, Masse des Restes verließ die Stadt gleich zu Beginn. Ein kleiner Teil kam in den getroffenen Unterständen um. – Bombenlöcher auf Straßen noch zu sehen, einfach toll.“

Geschichte wird gemacht

Alles hatte ganz zivil angefangen, Tarnung war groß geschrieben worden.Im Frühjahr 1934 begann man mit den Vorbereitungen zum Bau eines Militärflughafens bei Wunstorf. Die Wiederaufrüstungsanstrengungen der nationalsozialistischen Reichsregierung mussten zunächst wegen außenpolitischer Rücksichten noch geheim gehalten werden. Deutschland war nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg von den Siegermächten im Versailler Vertrag vom 28.6. 1919 lediglich ein Berufsheer von 100.000 Mann zugestanden worden. Eine Luftwaffe sollte es gar nicht geben. Auf diese Weise wollten sich Frankreich, Großbritannien und Italien die Kontrolle über diese neue Waffengattung vorbehalten, die während des l. Weltkrieges zum ersten Mal zum Einsatz gekommen war. Industrie, Reichswehr und Reichsregierung glaubten, dass Deutschland unter diesen Bedingungen den militärischen Anschluss an die anderen Großmächte in einem Maße verlieren würde, dass es fraglich erschien, ob es jemals wieder im Ensemble der einflussreichen Staaten eine Rolle spielen würde. So wurden schon zu Zeiten der Weimarer Republik Möglichkeiten gesucht, die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu umgehen. Auf Grund von Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg entwickelten Militärwissenschaftler Theorien, wonach die Kampfhandlungen von Anfang an durch die Luftwaffe auf feindliches Gebiet getragen, lebenswichtige Industrien, Verkehrsnetze und Ernährungsquellen des Gegners zerstört werden sollten. Transportflugzeugen für schnelle Truppenverlegungen würden eine entscheidende Bedeutung bekommen. Es wurden also verstärkt Transport- und Kampfflugzeuge – immer unter den Deckmäntelchen der zivilen Luftfahrt – gebaut, Waffen produziert, Kriegsvorbereitungen anderer Art getroffen: Bau von Luftschutzbunkern, Anlage von Flughäfen und Truppenübungsplätzen, das Straßen- und Schienennetz wurde ausgebaut.

Die zunächst geheime Anlage des Wunstorfer Fliegerhorstes war Teil dieser allgemeinen Rüstungsanstrengungen. Zuerst wurde eine „Deutsche Verkehrsfliegerschule” in Wunstorf eingerichtet, bald zog man in Baracken nahe der Landstraße Wunstorf-Neustadt um. Dann wurde der eigentliche Horst gebaut: Zur Anlage des Rollfeldes wurden die dünenähnlichen Sandhügel des letzten Heidegebietes im Raum Wunstorf abgetragen, Senken eingeebnet, Feuchtgebiete trockengelegt und befahrbar gemacht. Aus dem Ruhrgebiet wurden große Mengen Klärschlamm zur Bodenverbesserung herbeigeschafft – Grundlage für eine einheitliche Grasnarbe. Trotz der zivilen Tarnung – es hieß, eine Schokoladenfabrik solle gebaut werden – war in den umliegenden Gemeinden bald bekannt, dass ein Militärflughafen angelegt wurde.

Die Luftwaffe – zunächst 20.000 Mann, 2.500 Flugzeuge, davon 800 einsatzbereit – wurde am l. März 1935 gleichberechtigt neben Heer und Marine der deutschen Bevölkerung und dem Ausland präsentiert. Am 16. März 1935 wurde die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt, die bereits militärisch ausgebildeten Besatzungen den verschiedenen Einheiten zugeteilt. Jetzt konnte auch der Ausbau des Fliegerhorstes bei Wunstorf offen betrieben werden.

Am 2. April 1936 wurde Wunstorf offiziell zur Garnisonsstadt. „Mit klingendem Spiel und unter starker Anteilnahme der Bevölkerung“, so die Leine-Zeitung, hielten die Flieger Einzug in Wunstorf, knapp ein Jahr später, am 6. März 1937, wurde den Fliegern in einer weiteren Feierstunde die Hakenkreuzfahne überreicht.Nur wenige wussten, dass Wunstorfer Flieger des Kampfgeschwaders Boelcke bereits seit 8 Monaten auf Seiten des Putschgenerals Franco in Spanien gegen die Republik im Einsatz waren. Bereits im August 1936 hatten sie sich am Transport Marokkanischer Söldner aufs spanische Festland beteiligt – das bis dahin größte Lufttransportunternehmen in der Kriegsgeschichte, ohne das der Putsch von Anfang an gescheitert wäre. Nach dem Umbau der Junkers-52-Transporter in schwere Kampfflugzeuge bombardierten sie spanische Städte und Dörfer.

Während die Wunstorfer Naziführung mit Aufmärschen die neue Existenz als Garnisonsstadt zelebrierte – wobei man sich neben der „Ehre” auch finanzielle Vorteile versprach – bereiteten sich die Flieger abseits der Öffentlichkeit intensiv auf ihre neuen Aufgaben vor. Sie absolvierten Flugstunden, perfektionierten sowohl das Zusammenspiel von Flugzeugführer, Beobachter, Bordfunker und Bordmechaniker in den Bombern als auch die Kooperation zwischen Boden- und Luftpersonal.Außerdem übten sie Bombenabwürfe, experimentierten mit neuen Waffen und absolvierten Schießübungen.

Neben dem Dienst hatten junge Offiziere die Aufgabe, die neu geschaffene Luftwaffe in den umliegenden Dörfern bei Schützenfesten und anderen Feierlichkeiten zu repräsentieren. Darüber hinaus wurden Traditionsfeiern oder Fahnenweihen organisiert, Eintopfessen, Platzkonzerte, Aufmärsche, Schauflüge und andere Attraktionen. Gern kooperierten die Flieger dabei mit Veteranenverbänden als Multiplikatoren für deutschnationale, militaristische und antikommunistische Gesinnung. Kern der deutschen „Volksgemeinschaft“ war das allgegenwärtige Militär. Nur eine vollständig militarisierte Bevölkerung würde für neue bevorstehende Kriege mobilisiert werden können.

Schon im Namen „Kampfgeschwader Boelcke“, das in Wunstorf, Langenhagen und Delmenhorst stationiert war, brachte die neu geschaffene Luftwaffe ihre Verbundenheit mit den Soldaten des Ersten Weltkrieges und den traditionellen preußischen „Soldatentugenden“ zum Ausdruck. Anlässlich des 20. Todestages von Oswald Boelcke gedachte man im Oktober 1936 in einer Feierstunde auf dem Fliegerhorst des „Fliegerhelden“ und Namenspatrons. Flugplatzkommandant Hilgers behauptete in seiner Ansprache, der „ Geist dieses Mannes habe seinen Tod überdauert und sei heute so lebendig wie zuvor. Und da die Gruppe das Erinnerungsband an diesen großen Flieger trage, habe sie besondere Veranlassung, seiner zu gedenken.“ Am Schluss seiner Ausführungen, so der begeisterte Zeitungsschreiber, gab Hilger „der Gewissheit Ausdruck, dass der Geist eines Oswald Boelcke allzeit in der deutschen Fliegerei wach bleiben werde. Die Rede klang aus auf das Sieg Heil auf den Führer und das Musikkorps spielte die Nationalhymne. Mit ‚Wotans Abschied und Feuerzauber‘ aus Wagners ‚Walküre ‚fand die ernste, zugleich aber erhebende Feier ihren würdigen Abschluss.“ Nur Eingeweihte konnten den tieferen Sinn und den aktuellen Zynismus der Musikauswahl verstehen. Unter dem Tarnnamen „Feuerzauber“ hatten die ersten Einsätze der Luftwaffe zur Unterstützung der Putschisten in Spanien begonnen.

Von Gernika nach Warschau

Warschau 1939: wieder eine Bodenperspektive.

„An dem Tag, an dem der Krieg ausbrach, war ich in der Stadt“, berichtet Simha Rotem in seinem Buch „Kazik – Erinnerungen eines Ghettokämpfers“.2 „Ich war wohl auf dem Weg zur Schule, als wir plötzlich das Brummen von Flugzeugmotoren hörten. Die Straßenbahn blieb stehen. Manche Leute sagten, die Stadt werde bombardiert, andere behaupteten, es seien Manöver der polnischen Luftwaffe. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, dass es ein deutscher Angriff und dass der Krieg ausgebrochen war. Schon in den ersten Tagen wurden die Lebensmittel knapp. (…) Die Bombardierungen nahmen zu, und immer öfter erkannte ich nur mit Mühe einen Ort wieder, an dem ich erst gestern vorbeigegangen war, weil aus den Häuserreihen Ruinen geworden waren. Am meisten waren die jüdischen Viertel und das Stadtzentrum betroffen. (…) Einen Tag nach dem Einmarsch der Deutschen wurde ich Zeuge, wie auf der Straße Juden aufgegriffen und zur Zwangsarbeit abgeführt wurden. Es waren hauptsächlich solche, die durch ihre religiöse Kleidung leicht als Juden zu erkennen waren.“

Und auch hier wieder die Luftperspektive:

„Als morgens am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen („Fall Weiß“) der Zweite Weltkrieg begann, herrschte im Raum Warschau schlechtes Wetter. Deshalb lagen noch bis mittags alle drei Gruppen des Boelcke-Geschwaders in ihren Standorten Langenhagen, Wunstorf und Delmenhorst in Alarmbereitschaft. Obwohl das Kampfgeschwader 27 zur Luftflotte 2 gehörte, war es im „Fall Weiß“ dem General der Flieger Kesselring unterstellt, der die Luftflotte l befehligte. Diese und die Luftflotte 4 hatten bei dem Überfall auf Polen die Aufgabe, strategische Angriffe gegen feindliche Luftstreitkräfte am Boden durchzuführen und danach die Heeresverbände durch taktische Einsätze zu unterstützen. Auf Grund der schlechten Wetterlage startete die II. KG 27 zusammen mit den beiden anderen Gruppen erst gegen 14 Uhr vom Sammelort Langenhagen in das 700 km entfernte Warschau. Die Zusammensetzung der Besatzungen erfolgte so, dass sich in jeder Maschine des Typs He 111 P2 mindestens ein Teilnehmer der Legion Condor befand, weil es für viele Flieger der erste Feindflug war. Jede He 111 hatte eine Bombenlast von mehr als 1000 kg geladen, die sich in vertikal angeordneten Schächten befand. Als sie nach knapp vierstündigem Flug gegen 17.30 Uhr Wahrschau erreichten, flogen die Maschinen in einer Höhe von 4000 m, sodass sie für Flakgeschosse nicht erreichbar waren.“ Dies schreibt der Wunstorfer Heimatforscher Heiner Wittrock in seiner Chronik des Fliegerhorstes – um unbestimmt fortzufahren: „Geschützt von Jagdflugzeugen (der I./LG l) griff das KG 27 in den Vororten von Warschau verschiedene Ziele an.“3

Dass die Boelcke-Flieger auch Wohnviertel zerstörten wird nicht erwähnt. Anscheinend haben die befragten Zeitzeugen diese Einsätze verschwiegen und die örtlichen Heimatschriftsteller haben ihre Sichtweise übernommen. Sie erzählen vom Krieg und schweigen vom Verbrechen. Nicht anders als im Spanischen Bürgerkrieg wertete die Wehrmacht ihre Erfahrungen aus dem Polenfeldzug systematisch aus, um sowohl Waffen als auch Strategie und Taktik zu optimieren. Luftwaffenführungsstellen und einzelne Verbände mussten gleich nach ihrem Einsatz Berichte über ihre Erfahrungen in Polen anfertigen. So heißt es in der Auswertung der Luftflotte 1, der das Kampfgeschwader 27 Boelcke zu Beginn des Polenfeldzuges angehörte, im Abschnitt „Angriffe gegen Städte und Rüstungswerkstätten“: „Angriffe der Kampfkräfte können gegen Flächenziele aus jeder Höhe durchgeführt werden, gegen Punktziele (Fabrikationsanlagen u.a.m.) muss zum Angriff auf mindestens 4000 m heruntergegangen werden. Einsatz von Brandbomben hat sich dabei bewährt, besonders wirkungsvoll sind Benzinbomben gewesen.“4

Und im Bericht des Kampfgeschwaders 27 Boelcke ist im Abschnitt „Angriffe gegen Ortschaften“ zu lesen: „Zur Zerstörung von Ortschaften ist eine große Munitionsmenge erforderlich; so musste zur Zerstörung von Lomza (sic! H. B.) eine Gruppe zweimal eingesetzt werden. Günstige Munitionsart: SC 250 kg, SC 50 und SD 50 kg. Bei allen Angriffen erwies sich das Werfen aus großen und mittleren Höhen als besonders günstig.“5

Zwei Anflüge waren nötig gewesen, um das gewünschte Resultat zu erreichen: die Zerstörung der Kleinstadt Łomża, westlich von Bialystok an der Narew gelegen. Es handelte sich also nicht um Fehlwürfe beim Angriff auf militärische Einrichtungen, marschierende Truppen oder Verkehrswege, sondern um die bewusste Zerstörung der Stadt. Bei der Bombardierung Łomżas durch die III. Gruppe des Kampfgeschwaders Boelcke (Heimatflugplatz Delmenhorst) unter Gruppenkommandeut Nielsen am 7. September 1939, die mehrere Stunden dauerte, kamen über tausend Menschen ums Leben, ein Großteil der Stadt wurde zerstört, zahlreiche Gebäude fielen den Flammen zum Opfer. Warum dieser Angriff? Sollten durch Trümmer, Schutt und Brände wieder einmal – wie ja auch im Fall Gernika behauptet – Truppenbewegungen behindert werden oder handelte es sich um einen Terrorangriff? Vermischten sich möglicherweise die Motive? Gab es Gründe, die Einwohner dieses Ortes zu zermürben, zu terrorisieren?

Łomża hatte eine Besonderheit: 1939 waren rund 50 Prozent der Einwohner jüdischen Glaubens. Das gesellschaftliche Leben des Städtchens, dessen jiddischer Name Lomzhe lautete, war also wesentlich durch die jüdischen Gemeinden geprägt. Liegt hier ein Grund für das Bombardement auf das Zentrum des Schtetls, bei dem auch die Große Synagoge ausbrannte?

Am Angriff mit Brandbomben auf des jüdische Viertels von Warschau am 13. September 1939 war das Kampfgeschwader 27 Boelcke nicht beteiligt. Aber auch dieser Angriff zeigt, dass die deutsche Luftwaffe gezielt jüdische Stadtteile zerstörte. Die deutschen Besatzungen orientierten sich an Luftaufnahmen Warschaus, auf denen die jüdischen Viertel mit Angaben zum jüdischen Bevölkerungsanteil eingezeichnet waren.6

Angesichts der absehbaren Niederlage Polens, griff die Wehrmacht Warschau seit dem 24. September pausenlos mit Bombern und Artillerie an, um einen verlustreichen Straßen- und Häuserkampf zu vermeiden. Unter anderem wurden Ju 52-Flugzeuge für verheerende Angriffe mit Brandbomben eingesetzt. Dabei wurde jedes achte Haus in Warschau zerstört, die Verluste unter der Zivilbevölkerung beliefen sich auf circa 10.000 Tote und 35.000 Verletzte. Dieses Kriegsverbrechen sollte später vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg verhandelt werden.7

Im Laufe des Krieges waren Wunstorfer Flieger an allen Fronten aktiv: u.a. in Holland, Frankreich, England, Jugoslawien, der Sowjetunion. Und sie machten das, was sie gelernt hatten: Sie brachten Tod und Verderben vor allem über die Zivilbevölkerung.

Nach 1945: Traditionspflege

Am 7. April 1945 wurde der Fliegerhorst erst einmal von den Alliierten besetzt. Bis heute wird in Heimatchroniken immer wieder stolz darauf verwiesen, dass die Briten 1948/1949 von Wunstorf aus einen Teil ihrer Hilfsflüge während der so genannten „Luftbrücke“ nach Berlin absolvierten. Über die erste „Luftbrücke“, an der Wunstorfer Flieger beteiligt waren – der von Spanisch-Marokko nach Spanien, wird dagegen nicht so gern geredet.

Am 17. März 1958 wurde der Fliegerhorst Wunstorf an die deutsche Luftwaffe übergeben. Kurz zuvor erhielten die ersten 200 Rekruten, die sich bereits auf dem Horst aufhielten, hohen Besuch: Der kommandierende General der Luftwaffengruppe Süd, Generalleutnant Johannes Trautloft, – ein ehemaliger Condor-Legionär und Luftwaffenoffizier – inspizierte die neue Fliegertruppe. Bereits zwei Jahre vor seiner Wunstorf-Visite hatte Trautloft als Organisator einer internen Tagung der Traditionsgemeinschaft der Legion-Condor gesagt: „Das Wirken der ‚Legion Condor’ in Spanien muss der bundesdeutschen Jugend als Vorbild dienen.“8

Am 6. Juni 1958 wurde Wunstorf wieder offiziell Garnisonsstadt. Im Herbst 1978 entstand aus der Umgliederung und Umbenennung der Flugzeugfuhrerschule „S“ das Lufttransportgeschwader (LTG) 62 – das auch heute noch auf dem Horst stationiert ist.

Seit dem Besuch von Trautloft – also von Anfang an – legten die Wunstorfer Bundeswehr-Flieger großen Wert auf Traditionspflege. Im Mai 1984 wurde durch eine Indiskretion bekannt, dass im zugehörigen Soldatenheim ein Treffen des „Traditionsverbandes Geschwader Boelcke“ stattfinden sollte, das – so war dem Einladungsschreiben zu entnehmen – froh darüber war, den „Boelckegeist bei der jüngeren Generation weiterleben zu lassen“.9 Jahrelang war in diesem Traditionsverband auch Oberst a.D. Freiherr v. Beust aktiv, der seine Lehrzeit auf dem Fliegerhorst Wunstorf verbracht hatte, und unter anderem an der Bombardierung Gernikas beteiligt war.

1985 feierten die Wunstorfer trotz bundesweiter Proteste 50jähriges Jubiläum des Militärflugplatzes und damit die NS-Zeit gleich mit. Der damalige Commodore Bundeswehr-Oberst Holinka wörtlich: „Ich feiere einfach, so wie viele Firmen oder Clubs ihre Jubiläen feiern, das 50jährige Bestehen dieses Arbeitsplatzes und der Verbindung des Fliegerhorstes zur Stadt Wunstorf.“10

Auch 1986 setzte der Oberst seine Traditionspflege unermüdlich fort: Gut 50 Jahre nachdem der Einsatz von Ju 52 Transport- und Bombenflugzeugen entscheidend zur Eskalierung des Franco-Putsches zum mehrjährigen Krieg beigetragen hatte, veranlasste er den Flug einer schweizerischen Ju 52 über die Städte Wundtorf und Neustadt. Um den militärischen Bezug zum Bundeswehr-Fliegerhorst deutlich zu machen, stiegen zwei Transall-Maschinen zum Ehrengeleit für die „gute alte Tante Ju“ auf.11

Wenig später richtete die Kommandantur auf dem Fliegerhorst ein kleines Militärmuseum ein, um der Öffentlichkeit eine aus einem norwegischen Fjord geborgene und liebevoll restaurierte Junkers Transport-Maschine zu präsentieren. Hitler hatte 1942 gemeint: „Franco sollte der Ju 52 ein Denkmal setzen.“ Doch nicht in Spanien gedachte man der Junkers-Maschine, sondern traditionsbewusst auf dem Fliegerhorst Wunstorf. Bis heute. Aber immerhin finden inzwischen gelegentlich Protestveranstaltungen vor der Ju-52-Halle statt.

Seit Anfang der 1990er Jahre begann mit den internationalen Einsätzen der Bundeswehr eine andere Form der Traditionspflege.

Weltweite Einsätze

Um die Bevölkerung an Einsätze in aller Welt zu gewöhnen, präsentierten sich die Wunstorfer Transportflieger als Hilfstruppe für Notleidende in aller Welt – eine Art fliegendes Rotes Kreuz. Das liest sich dann so wie in einem jüngst erschienenen Bildband zur Region um das Steinhuder Meer: „Die besonderen Fähigkeiten der Flugzeuge und der Besatzungen führen die Besatzungen und Techniker-Crews zu zahlreichen Hilfseinsätzen – weltweit. Die Liste der Einsätze ist lang: Äthiopien und Sudan von 1984 bis 1986, die Kurdenhilfe in der Türkei oder auch Flüge in die Golf-Region und nach Somalia. Allein während der Hilfsaktion in Äthiopien wurden in sieben Monaten bei 1.859 Einsätzen über 15 300 Tonnen Ladung und ca. 2 800 Passagiere befördert. (…) Die Einsätze bekamen ab 1992 mit der Luftbrücke nach Sarajewo eine neue Qualität. Erstmals sahen sich die Besatzungen einer latenten Bedrohung ausgesetzt. In den Morgenstunden des 4. Juli 1992 startete die erste mit Hilfsgütern beladene Transall nach Sarajewo. Die Unterstützungsflüge in das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien halten an.“12 Schon wieder eine Luftbrücke – die dritte in der Geschichte des Horstes: diesmal eine nach Sarajewo. Unbeantwortet bleibt die Frage, was diesmal transportiert wurde. Söldner, Waffen, Rosinen? Alles bleibt seltsam vage. Vom Krieg wird nicht gern geredet. Dabei war das Lufttransportgeschwader 62 der Bundeswehr seit Anfang der 1990er Jahre an vielen Kriegsschauplätzen weltweit im Einsatz. Die Wunstorfer Flieger unterstützten im zweiten „Golfkrieg“ die USA mit Transportflügen in die Türkei. Im Laufe des Krieges kam dem Wunstorfer Horst eine besondere Bedeutung zu: Zeitweise liefen alle Transporte der Nato in Richtung Türkei über diesen Militärpflugplatz.

Beim völkerrechts- und verfassungswidrigen Angriff auf Jugoslawien brachte das Lufttransportgeschwader mit seinen Transall-Maschinen Menschen und Kriegsmaterial in die Krisenregion. Heute sorgt es u.a. für den Nachschub ins afghanische Kriegsgebiet. Aber es war auch schon in Albanien, Usbekistan, Somalia, im Kongo und anderen Ländern aktiv. Die Sanitätsstaffel war sogar in Windhuk und auch bereits im Gazastreifen tätig. Weitgehend unbeachtet blieb bislang, dass das Lufttransportgeschwader auch Aufgaben im Innern übernimmt und damit erneut in Konflikt mit der Verfassung gerät. Bekannt wurde eine so genannte „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen der Stadt Wunstorf, der Polizei und der Fliegerhorstkommandantur. Angesichts wachsenden Sozialabbaus und damit einhergehender Armut will man sich, so ist dem Vertrag zu entnehmen, auf zunehmendes „Norm verletzendes Verhalten“ einstellen. Die Fliegerhorstsicherungsstaffel wurde bei Objektschutzübungen zur Verstärkung der Polizei und des Grenzschutzes sowie bei der Überwachung von Castortransporten eingesetzt.13

Drehscheibe für internationale Kriege

Im November 2004 entschied das Bundesverteidigungsministerium den Airbus A 400 M auf dem Flugplatz Wunstorf zu stationieren.14 Begründung: Einerseits sei der Wunstorfer Horst wegen der zweiten Start- und Landebahn besonders sicher. Andererseits liege Wunstorf „strategisch günstig – zentral in der Bundesrepublik Deutschland“ – und könne „daher im Einsatzfall von allen Flugplätzen der Bundeswehr und der NATO erreicht werden“.15

Zur Zeit wird der Ausbau und die Verlängerung der Start- und Landebahnen von 1 877 m auf 2 499 m vorbereitet. Ab 2010 soll auf dem Fliegerhorst Wunstorf als erstem Flugplatz der Bundeswehr das neue Großraumtransportflugzeug stationiert werden. Bisher veranschlagte Baukosten: etwa 119 Millionen Euro.16 Außerdem ist ein Logistikzentrum für Privatunternehmen geplant.

Mit dem neuen Großtransporter werden schnelle und umfangreiche Truppenverlegungen und der Transport von schwerem Material möglich – z.B. können dann die Einheiten des Panzerbataillons 33 aus dem nahe gelegenen Neustadt-Luttmersen in kurzer Zeit weltweit verlegt werden. Später soll auch der Fliegerhorst Hohn in Schleswig Holstein zum Stützpunkt für den A 400 M ausgebaut werden. Doch der Fliegerhorst Wunstorf wird eine besondere Rolle spielen. In den Bau-Planungsunterlagen der Oberfinanzdirektion Hannover heißt es: „Darüber hinaus wurde entschieden in Wunstorf ein neues Präzisionsanflugsystem zu installieren. Hintergrund dieser Entscheidung ist, dass das neue Transportflugzeug Aibus A 400 M durch seine Bordausrüstung die Möglichkeit bietet, auch bei widrigen Wetterlagen und schlechten Sichtbedingungen (zum Beispiel Nebel mit geringen Sichtweiten) zu landen.“17 Die räumlichen Bedingungen für die Installierung dieses Präzisionsanflugsystems sind in Wunstorf besonders günstig.

Der Fliegerhorst Wunstorf und die Region Hannover entwickeln sich damit zur Drehscheibe internationaler zukünftiger Kriege – militärische Traditionspflege der besonderen Art.


Anmerkungen

1 Es handelt sich um überarfbeiteten und erweiterten Vortrag, der am 15.5.2008 während einer Veranstaltung der DFG/VK in Hannover und am 23.8.2008 während des Sommerratschlags der niedersächsischen Landtagsfraktion der Linken in Hannover gehalten wurde. Der Text basiert auf: Brieden, Hubert / Dettinger, Heidi / Hirschfeld, Marion: „Ein voller Erfolg der Luftwaffe“, die Vernichtung Guernicas und deutsche Traditionspflege, Wundtorf – Pfotzheim – Bonn, Neustadt 1997. Die Quellen stammen, wenn nicht anders angegeben, aus diesem Buch.
2 Rotem, Simha: Kazik, Erinnerungen eines Ghettokämpfers, Berlin 1996, S. 17 ff.
3 Wittrock, Heiner: Fliegerhorst Wunstorf, Teil 1: Der Fliegerhorst des Dritten Reichs (1934-1945), Wunstorf 1995, S. 81
4 Bundesarchiv-Militärarchiv RL 7 / 4, S. 7
5 ebd. S. 75, Erfahrungsbericht Kampfgeschwader Bielcke 27, angefertigt in Langenhagen am 4.10.1939
6 vgl. Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 1/1999, S. 64, 65
7 Böhler, Jochen: Auftakt zum Vernichtungskrieg – die Wehrmacht in Polen 1939, Bonn 2006, S. 164
8 Braunbuch, Reprint der Ausgabe 1968, S. 222
9 zit. in: Brieden, Hubert / Dettinger, Heidi / Marion, Hirschfeld: a.a.O. S. 90
10 10) zit. ebd. S. 93, grammatikalische Fehler im Original des Zeitungsartikel
11 ebd. S. 96 ff.
12 Borges, Malte: Aus Wunstorf in die ganze Welt, in: ders. (Hg.): Rund ums Steinhuder Meer, Clenze 2008, S. 129
13 Arbeitskreis Regionalgeschichte, Zeitungsausschnittarchiv
14 Schreiben der Oberfinanzdirektion Hannover an Wehrbereichsverwaltung Nord v. 19.4.2007, S. 1
15 ebd. S. 13
16 Staatliches Baumnagement Weser-Leine: Ausbau des Flugplatzes Wunstorf für das Waffensystem Airbus 400 M, 30.6.2006, S. 7
17 vgl. Anmerkung 15