Schreiben an den Bürgermeister
Zum Neujahresempfang der Stadt Neustadt a. Rbge. am 16. Januar 2014 wurde auch der Arbeitskreis Regionalgeschichte eingeladen. Doch der nahm diese Einladung nicht an und begründete dies in einem Schreiben an den Bürgermeister:
Sehr geehrter Herr Sternbeck,
vielen Dank für die Einladung des Arbeitskreises Regionalgeschichte zum Neujahresempfang 2014 der Stadt Neustadt a. Rbge. Wir wissen diese erste Einladung nach 33 Jahren ehrenamtlicher Arbeit zu schätzen und würden gerne mit Ihnen auf das neue Jahr anstoßen. Nicht zuletzt deshalb, weil Sie seit Ihrem Amtsantritt als Neustädter Bürgermeister auf unterschiedliche, unvoreingenommene Weise die regionale Geschichts- und Erinnerungsarbeit unterstützten und dabei auch kontroversen, über Jahrzehnte verdrängten Themen nicht auswichen.
Leider wird es zu dieser Begegnung nicht kommen, weil die Bundeswehr den Neujahresempfang mitorganisiert und diesen durch das angewiesene Tragen von Uniformen sowie Darbietungen des Heeresmusikkorps dominiert und als Werbeveranstaltung nutzt. Vielleicht fragen Sie nun, was daran so schlimm sein soll. Die Antwort erhalten Sie durch einen Blick in die deutsche (Militär-) Geschichte:
Erster Weltkrieg: ca. 17 Millionen Tote,
Zweiter Weltkrieg: 50 bis 63 Millionen Tote,
Kosovokrieg (Angriff auf Jugoslawien/Serbien): 2000 bis 3000 Tote,
Afghanistankrieg: bislang mindestens 30 000 Tote.
Ich erspare Ihnen die Opferzahlen aus den deutschen Kolonialkriegen in China und Afrika, aus dem Spanischen (Bürger-) krieg, die Zahlen der Verwundeten und die Bezifferung der materiellen Schäden, möchte aber noch darauf hinweisen, dass es sich bei der Mehrzahl der Opfer um Zivilistinnen und Zivilisten handelte und handelt.
Geführt wurden und werden all diese Kriege aus wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen. Voraussetzung für das Führen von Kriegen war und ist neben der Aufrüstung die schleichende Gewöhnung der Bevölkerung an soldatische Gepflogenheiten und Denkweisen, an Uniformen, Militärkapellen, Gleichschritt und Marschmusik, die Durchdringung immer mehr gesellschaftlicher Bereiche durch das Militär und gesinnungsmilitaristische Vereinigungen. Gerade im Jahr 2014, hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sollte man sich daran erinnern.
Im Jahr 2014 sollte aber auch an ein weiteres kriegerisches Ereignis gedacht werden. Vor 15 Jahren begann im so genannten „Kosovokrieg“ der Angriff gegen Jugoslawien/Serbien, mit dem mehrere Tabus gebrochen wurden: Es war der erste Krieg in Europa nach 1945 und der erste Kriegseinsatz deutschen Militärs seit dem Zweiten Weltkrieg. Und es war der dritte Angriff Deutschlands gegen Serbien im 20. Jahrhundert. Kampfflugzeuge der Bundeswehr bombardierten gemeinsam mit den NATO-Verbündeten in einem völkerrechtswidrigen Krieg auch zahlreiche zivile Ziele. Im Vorfeld des Krieges wurde die deutsche Bevölkerung über die Situation im Kosovo massiv belogen, darüber hat der damalige OSZE-Beobachter im Kosovo und ehemalige Brigadegeneral der Bundeswehr, Dr. Heinz Loquai, auf einer Veranstaltung des Arbeitskreises Regionalgeschichte in Neustadt ausführlich berichtet. (ein Mitschnitt des Vortrages ist zu hören unter: http://www.ak-regionalgeschichte.de/html/termine_und_mehr.HTM [Neuer Link seit September 2016: https://ak-regionalgeschichte.de/veranstaltungen/#Kosovokrieg]. Nach der Besetzung des Kosovo durch die NATO, darunter auch Bundeswehrtruppen aus Luttmersen, wurden die nationalen Minderheiten durch die albanischen Verbündeten der NATO aus dem Kosovo vertrieben. Kein einziges soziales und politisches Problem in der Region wurde gelöst, der Konflikt schwelt weiter. Und Afghanistan? Die soziale Situation der Bevölkerung – besonders von Frauen und Kindern – ist katastrophal. Frauenrechte werden nach wie vor mit Füßen getreten. Darüber berichtete Dr. Matin Baraki auf Einladung des Arbeitskreises Regionalgeschichte ebenfalls in Neustadt (nachzuhören unter der o. g. Internetadresse). Durch die militärische und politische Kooperation der westlichen Truppen mit Drogenbaronen steigerte sich von Jahr zu Jahr der Opiumanbau und erreichte 2013 einen Spitzenwert. Das Massaker von Kundus mit mehr als 130 toten Zivilisten ist noch gut in Erinnerung und auch, dass der verantwortliche Bundeswehroffizier für diesen Massenmord nicht zur Rechenschaft gezogen und stattdessen befördert wurde.
Neue Kriege werden geführt, ohne dass die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges angemessen aufgearbeitet worden wären. Aber nicht nur das: Nach wie vor werden von Traditionsverbänden und auch von der Bundeswehr Verbrechen der Wehrmacht relativiert, verharmlost oder gänzlich abgestritten. Im bis heute nicht zurückgenommenen Hausverbot in der JU 52-Halle (ausgesprochen weil ich mich mit der Geschichte des Fliegerhorstes Wunstorf und des dort stationierten Boelcke-Geschwaders befasste) kam dies einmal mehr zum Ausdruck. Von einem recht eigenwilligen Umgang mit der NS-Geschichte zeugt auch das auf Ihrer Einladung abgebildete Wappen des Panzerbataillons 33, ist es doch an das Wappen des Afrikakorps der Wehrmacht angelehnt. Vor einigen Jahren wurde dies auch noch freimütig eingeräumt. Heute wird das Offensichtliche abgestritten (vgl. Leine-Zeitung v. 19.2.2010 und unsere beiligende Ausstellungsbroschüre).
Wir hoffen, Sie verstehen nun, warum wir an diesem militarisierten Neujahresempfang nicht teilnehmen können. Warum spielt das Militär schon wieder diese Sonderrolle? Warum laden Sie nicht z. B. Gewerkschaften oder Künstlerinitiativen als Mitveranstalter ein? Letzteres hätte den Vorteil, dass auch die musikalischen Darbietungen abwechslungsreicher und innovativer würden.
Der Arbeitskreis Regionalgeschichte hat im vergangenen Jahr anlässlich des bevorstehenden hundertsten Jahrestages des Ersten Weltkrieges eine Ausstellung erarbeitet mit dem Titel „Von Krieg zu Krieg – Spuren des Militarismus in der Region Hannover vom 19. Jahrhundert bis heute“. Erstmals gezeigt wurde sie von September – Dezember 2013 vom Bildungswerk Ver.di in Hannover und ist vom 24. Februar – 28. März 2013 in der IGS Langenhagen zu sehen. Wir würden uns freuen, wenn diese Ausstellung auch in Neustadt präsentiert würde. Sie könnte einen Rahmen bieten, die hier angerissenen Themen weiter und intensiver zu diskutieren.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitskreises Regionalgeschichte wünschen Ihnen ein glückliches und friedliches neues Jahr.
Mit freundlichen Grüßen
Hubert Brieden