Berufsverbote in den 1970er und 80er Jahren

Der Niedersächsische Landtag stellt sich der Geschichte

Radiofeature (Manuskript)

Gewidmet dem schwer verletzten Hildesheimer Pädagogen und vom Berufsverbot betroffenen Udo Paulus

Am 15. Mai 2014 beschloss der Niedersächsische Landtag, eine Kommission zur Aufarbeitung des sog. genannten „Radikalenerlasses“ einzurichten – im Volksmund eher bekannt unter dem Begriff „Berufsverbote“. Sollte dieses Vorhaben realisiert werden, wäre Niedersachsen das erste Bundesland, das sich anschickt, ein unrühmliches Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte dem Vergessen zu entreißen und – hoffentlich – zu korrigieren.

Im Landtagsantrag der Fraktionen von SPD und Grünen wird u. a. festgestellt:

– „dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen,

– dass die Umsetzung des so genannten Radikalenerlasses ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens darstellt und das Geschehene ausdrücklich bedauert wird,

– dass die von niedersächsischen Maßnahmen betroffenen Personen durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit vielfältiges Leid erleben mussten,

– dass er (der Landtag) den Betroffenen Respekt und Anerkennung ausspricht und sich darüber hinaus bei denen bedankt, die sich z. B. in Initiativen gegen Radikalenerlass und Berufsverbote mit großem Engagement für demokratische Prinzipien eingesetzt haben.

Der Landtag wird eine Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von niedersächsischen Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung einrichten. In dieser Kommission sollen neben Mitgliedern des Landtags auch Betroffene, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften und Initiativen beteiligt werden. Ebenso ist eine wissenschaftliche Begleitung vorzusehen. Ziel ist die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung und die öffentliche Darstellung der Kommissionsergebnisse und die weitere Verwendung im Rahmen der politischen Bildung in Niedersachsen.“

Worum geht es?

Der so genannte „Radikalenerlass“ wurde 1972 von der Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Vorsitz des damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt beschlossen. Danach sollten „Personen die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten“ aus dem Öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden.

Faktisch und fast ausschließlich richtete der Erlass sich gegen politisch Aktive aus einem breiten linken Spektrum: Kommunisten, Sozialdemokraten, Pazifisten, Antifaschisten und Journalisten. Er führte zu einer in Europa beispiellosen Jagd auf vermeintliche „Verfassungsfeinde“ – z. B. Lehrerinnen und Lehrer, Lokführer, Briefträger –, 3,5 Millionen Menschen wurden vom Verfassungsschutz bespitzelt und überprüft. Es gab rund 11 000 Berufsverbotsverfahren, etwa 1 500 Menschen verloren durch Berufsverbote ihre materielle Existenzgrundlage.

Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher liegen, da im Zuge der Stellenknappheit im Erziehungswesen seit Ende der 1980er Jahre politisch motivierte Ablehnungen nicht mehr politisch, sondern mit fehlenden Planstellen begründet werden konnten. Der von „Verfassungsschutz“experten im Vorfeld bereits diskutierte Effekt der Berufsverbote: Die politische Einschüchterung der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes insgesamt.


Richard Plank erinnert sich noch gut, wie die Berufsverbote auf ihn als Schüler wirkten.

Hubert Brieden (HB): Richard, Du warst an welcher Schule in Hannover?

Richard Plank (RP): Ich war an der IGS Roderbruch Schüler, von 1975 bis 79.

HB: Und Du hattest damals mit Lehrern zu tun, die vom Berufsverbot betroffen waren?

RP: Ja, also, an einen Vorfall, an eine Geschichte mit einem Lehrer kann ich mich gut erinnern, weil es mein Co-Klassenlehrer war, der betroffen war. Der ist dort sehr stark unter Druck geraten. Da gab es auch Auseinandersetzungen, die wir als Schüler mitbekommen haben, mit der Schulleitung. Er hatte sich dort politisch betätigt, was in unseren Augen so nicht nachvollziehbar war. So wie ich es in Erinnerung habe, ist er auch vor einen Ausschuss zitiert worden und musste dort also Rede und Antwort stehen. Und er musste schlussendlich dann aus verschiedenen disziplinarischen Gründen, die uns dann nicht genannt worden sind im Einzelnen, den Schuldienst verlassen. Uns kam das damals sehr ungerecht vor. Für uns war es ein guter Lehrer, der sich für uns Schüler interessiert hat. Es hat schon eine große Verunsicherung ausgelöst, vor allem, weil wir das ja auch nicht nachvollziehen konnten, worum es geht, da wir nicht den Eindruck hatten, dass Lehrer sich jetzt nicht korrekt verhalten hätten. Und insofern hat das schon auch ein bisschen das Vertrauen in Gerechtigkeit, in Rechtssicherheit und solche Dinge auch bei mir persönlich doch sehr erschüttert zu der damaligen Zeit.


Aus der Perspektive eines vom Berufsverbot Betroffenen erinnert sich der Lehrer Matthias Wietzer.

Matthias Wietzer: Ich bin von Beruf Grund- und Hauptschullehrer, durfte allerdings 12 Jahre und fünf Monate meinen Beruf nicht ausüben. Vorgeworfen wurde mir die Wahrnehmung demokratischer Rechte, und zwar 1978 bin ich nicht eingestellt worden als Lehrer nach meiner Ausbildung. Mir wurde unter anderem vorgeworfen, dass ich für den Marxistischen Studentenbund Spartakus an der PH Göttingen kandidiert hätte. Mir wurde vorgeworfen, dass ich für die DKP für den Göttinger Rat kandidiert hätte. Eine Spende über 20,- D-Mark im Jahre 1973 soll ich gemacht haben, und ich zitiere mal aus dem Schreiben der Anhörkommission:

„Sie waren Teilnehmer an Versammlungen der DKP-Ortsgruppe Cuxhaven, Blohmstraße 5, am 14.07.1977, am 12.08.1977, am 05.09.1977, am 30.09.1977 und am 11.11.1977 (Zeugenerklärung).“ Zitat Ende.

D. h. also, ich bin dort – ja – bereits jahrelang bespitzelt worden.

Nach dieser sogenannten „Anhörung“ – das ist ein Inquisitionsverfahren, kann man auch sagen, dreieinhalb Stunden hat die gedauert – wurde ich arbeitslos. Ich musste insgesamt fünf Prozesse, fünf Gerichtsprozesse führen, und – ja – meine Arbeitslosigkeit dauerte insgesamt fünf Jahre.

Mit dem Wechsel der Landesregierung von Albrecht zu Rot-Grün wurde ich als Lehrer eingestellt und habe von 1991 bis 2014 als Lehrer gearbeitet. Ich habe eine Dankesurkunde des Landes Niedersachsen bekommen, der Landesschulbehörde:

„Herrn Lehrer Matthias Wietzer spreche ich für 25jährige gewissenhafte Pflichterfüllung im Öffentlichen Dienst zum Wohle der Allgemeinheit den Dank der Niedersächsischen Landesregierung und zugleich deren Glückwünsche aus.“ Das war im Jahr 2009.

Das Berufsverbot hat beträchtliche Auswirkungen auf das Ruhegehalt, das ich bekomme. Ich habe von meiner Gewerkschaft, der GEW, mal ausrechnen lassen, wie es denn wäre, wenn ich kein Berufsverbot bekommen hätte, und die Gewerkschaft ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ich 834,55 € brutto augenblicklich mehr bekommen würde, wenn dieses Berufsverbot nicht stattgefunden hätte – über 800,- € brutto. Das Ganze ist meines Erachtens eine Abstrafung, eine Bestrafung bis ans Lebensende, und die Forderungen der Betroffenen

– erstens nach einer Entschuldigung und

– zweitens auch nach einer Entschädigung, die sicherlich individuell jeweils gesehen werden muss,

sind angebracht und durchaus berechtigt.


Erzählen Betroffene heute von ihren Erfahrungen, können es viele gar nicht glauben, dass es so etwas in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben haben soll.

1995 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass mit dem sog. „Radikalenerlass“ Grund- und Menschenrechte grob verletzt wurden. Auch Willy Brandt nannte ihn später einen „Irrtum“. Ende der 1980er und in den 90er Jahren wurden Betroffene dann z. T. wieder eingestellt. Niemals jedoch wurden der sog. „Radikalenerlass“ bundesweit offiziell abgeschafft und dieses Unrecht korrigiert.

Und die Repressionsgeschichte der Bundesrepublik wird immer noch vertuscht. Die Bundesregierung bestreitet, dass es so etwas wie Berufsverbote überhaupt gegeben habe, und die Verfassungsschutzämter teilen vielen Betroffenen mit, über sie lägen keinerlei Akten vor. Und Löschungsdaten über etwaig einmal vorhandene Akten gibt es auch nicht. Doch den Betroffenen liegen die „Erkenntnisse“ des Inlandsgeheimdienstes aus ihren Anhörungen aus den 1970er und 80er Jahren schwarz auf weiß vor.

George Orwell schrieb in seinen düsteren Zukunftsroman „1984“: „Alles löste sich in Nebel auf. Die Vergangenheit war ausradiert, und dann war sogar die Tatsache des Radierens vergessen, die Lüge war zur Wahrheit geworden.“

Das, was der Niedersächsische Landtag sich vorgenommen hat, dürfte keine leichte Aufgabe werden, und die Einladung der „Sachverständigen“ Isensee, Backes und Jesse zeigt an, dass es erhebliche Widerstände gegen die Aufarbeitung gibt.

Denn schon bevor die Zusammensetzung der niedersächsischen Landtagskommission überhaupt festgelegt werden kann, versucht die CDU im Ausschuss für Inneres und Sport, die Kommissionsarbeit durch die Einladung dreier „Experten“ inhaltlich und ideologisch zu fixieren. Es handelt sich um die Politologen Eckhard Jesse und Uwe Backes sowie den Juristen Josef Isensee – alle drei vehemente Befürworter der Berufsverbote.

Da ist zunächst …

Josef Isensee: Prof. Dr. Dr. h. c. Josef Isensee hat abgesagt. Der emeritierte Staatsrechtler möchte sich nicht in den Dienst des Landtagsantrags stellen, dessen Inhalt und Richtung er als „undiskutabel“ vollkommen ablehnt.

So entgeht uns die Stellungnahme eines hoch gelobten und 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse hoch dekorierten Juristen, der als Mitherausgeber des „Handbuchs des Staatsrechts der BRD“ zeichnet und dort die inhaltliche Hoheit über das das„Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht“ inne hat. 1994 zeichnete ihn der Papst außerdem mit dem Komturkreuz des Gregoriusordens aus.

Isensee hat sich stets mit scharfen und pointierten Formulierungen in gesellschaftliche Fragen eingemischt. Zuletzt hat er 2012 auf sich aufmerksam gemacht, als er gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft eingetreten ist, die er schon 1999 als „Staatsstreich des Parlaments“ bezeichnete. Zuvor hat er z. B. dezidiert Stellung bezogen gegen das sog. Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995.

Und immer wieder finden sich bei Isensee latent und explizit islamfeindliche Positionen.Hier eine Kostprobe aus einem Interview: „Doch wir leben nun einmal in einer permissiven Gesellschaft, die die hergebrachten Regeln der Moral, des Anstands, des Geschmacks weitgehend abgebaut hat. Das ist die schäbige Folge der Freiheit.“

Für sich selbst spricht der Brief, mit dem Isensee seine Teilnahme an der Landtagsanhörung abgesagt hat. Er wendet sich wie folgt an den Präsidenten des Niedersächsischen Landtags:

„Sehr geehrter Herr Präsident,

Ihre Einladung, an der Anhörung am 8. Oktober 2014 teilzunehmen, lehne ich ab.

Über die niedersächsische Praxis zum Radikalenerlaß kann ich nicht urteilen, weil mir die Fakten nicht bekannt sind. Es ist nicht auszuschließen, daß es einzelne Fehler gegeben hat; die kommen überall vor. Doch darauf kommt es angesichts der Gesamttendenz des Entschließungsantrags auch nicht an. Diesem geht es erkennbar darum, dem Linksextre­mismus der Siebziger und Achtziger Jahre einen Persilschein auszustellen und eine rechtsstaatliche Märtyrerkrone aufzusetzen, den Rentnern der APO eine späte Genug­tuung zu bereiten, als Nebeneffekt frühere Landesregierungen zu denunzieren, daß sie gegen die Verfassung verstoßen hätten. Die Antragsteller bedienen sich des rechtsfrem­den und rechtsverbiegenden Agitprop-Schlagwortes vom „Berufsverbot“ – ein Zeichen dafür, daß sie gar nicht darauf ausgehen, die Praxis juristisch zu analysieren und in eine sachliche Diskussion der damaligen wie der heutigen Rechtslage einzutreten. Es geht nicht um die Aufarbeitung der Materie nach den Maßstäben des Beamten- und des Partei­enrechts, der Grundrechte wie der unterschiedlichen Voraussetzungen des Abgeordne­tenmandats und des Amtes in der Exekutive. Vollends erinnert der Text nicht an das grundgesetzliche Leitbild einer abwehrbereiten Demokratie. Derartige Erwägungen ver­tragen sich nicht mit der strammen politischen Gesinnungshaltung, die dem Entschlie­ßungstext eigen ist. An ihr würden rechtliche Argumente abprallen. Der Antrag ist indis­kutabel. Seinetwegen fahre ich nicht nach Hannover.

Als geborener [sic!] Niedersachse und dem Land dauerhaft verbunden, kann ich den Abgeord­neten des niedersächsischen Landtags nur raten: Blamiert Euch nicht!

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Josef Isensee“

Hier spricht ein ewig-gestriger Konservativer, der bis heute nicht akzeptieren kann, dass die Praxis der Berufsverbote eklatant gegen unser Grundgesetz verstoßen hat, das sie zu verteidigen vorgab. In dieselbe Richtung zielten während der Landtagsdiskussion Zwischenrufe aus der CDU-Fraktion wie: es ginge doch um „Kommunisten“ und „Verfassungsfeinde“.

Wer wurde noch von der CDU-Fraktion als Experte benannt?

In einem Brief beschreibt im Dezember 1999 der damalige Präsident des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“, Peter Frisch, den nächsten Eingeladenen. Er sei ein „Garant für den Fortbestand unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist stolz darauf, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Der Mann, für den sich der „Verfassungschutz“präsident so engagiert einsetzt, ist der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Uwe Backes. Er vertritt seit vielen Jahren die wissenschaftlich äußerst umstrittenen Totalitarismus- und Extremismustheorien. Zusammen mit seinem Kollegen Eckhard Jesse arbeitet er insbesondere auch für den sog. „Verfassungsschutz“. Beide sind z. B. 2010 beim 9. Symposium des Thüringer „Verfassungsschutzes“ aufgetreten: Jesse mit dem Thema „Aktuelle Aspekte des Linksextremismus – Möglichkeiten und Grenzen der Bekämpfung“ – ausgerechnet zur Hochzeit des NSU!

Backes, 1960 geboren, ist seit 1999 außerplanmäßiger Professor für vergleichende Diktaturforschung an der Technischen Universität Dresden. Außerdem ist er stellvertretender Direktor des „Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung“ an der TU Dresden.

Seinen Job am „Hannah-Arendt-Institut“ hätte Backes 1999 beinahe verloren. Damals ermutigte er seinen Kollegen Lothar Fritze, in der FAZ einen Artikel über den Hitler-Attentäter Georg Elser zu veröffentlichen, in dem Elsers Motive in Zweifel gezogen und ihm die moralische Berechtigung für das Attentat abgesprochen wurde. Drei Viertel der Mitarbeiter/innen des „Hannah-Arendt-Instituts“ forderten daraufhin damals die Entlassung von Backes – der anfangs erwähnte Einsatz des „Verfassungsschutz“präsidenten hat ihn seinerzeit gerettet.

Backes und Jesse sind Mitbegründer des „Veldensteiner Kreises zur Erforschung von Extremismus und Demokratie“ und geben das gleichnamige „Jahrbuch Extremismus & Demokratie“ heraus. Der „Veldensteiner Kreis“ wird gefördert und finanziert von der Konrad-Adenauer-Stiftung und vom Bayerischen Landtag. Ziel des „Veldensteiner Kreises“ ist es, die „vergleichende Extremismusforschung zu fördern“.

Mitbegründer des „Veldensteiner Kreises“ ist ein gewisser Rainer Zitelmann. In seiner Dissertation „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“ bemüht er sich um den Nachweis, dass es Hitler mit seiner Sozialpolitik auch um die Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft, um die Überwindung des Klassenkampfs, um Chancengleichheit und soziale Mobilität gegangen sei. Hitler habe sich selbst als einen sozialen Revolutionär verstanden und aktiv und konstruktiv zur Modernisierung der deutschen Gesellschaft beitragen wollen, so Zitelmann einige Jahre später in dem Sammelband „Nationalsozialismus und Modernisierung“.

Im „Veldensteiner Kreis“ befindet man sich auch sonst in illustrer Gesellschaft, z. B. von Peter Frisch, dem bereits erwähnten früheren Präsidenten des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“. Peter Frisch war Befürworter des sog. „Radikalenerlasses“. Von 1975 bis 1984 war er, zuletzt als Leiter, in der Abteilung „Verfassungsschutz“ des niedersächsischen Innenministeriums, damit hauptverantwortlich für die Bespitzelung von Berufsverbots-Betroffenen.

Ein weiterer Referent des „Veldensteiner Kreises“ war und ist Helmut Roewer, ehemals Präsident des Thüringischen „Verfassungsschutzes“, wegen Veruntreuung im Jahre 2000 suspendiert.Aber viel wichtiger: Roewer ist verantwortlich für das – vielleicht sogar absichtliche – Versagen des Thüringischen „Verfassungsschutzes“ in der NSU-Affaire. Roewer schreibt heute als Publizist für den Grazer „Ares-Verlag“, der auch antisemitischen und neofaschistischen Autoren eine Plattform bietet.

Der kleine Exkurs beschreibt den inhaltlichen Kontext, in dem sich Backes bewegt. Und noch etwas charakterisiert ihn: dieselbe unerträgliche Leichtigkeit im Umgang mit dem Nationalsozialismus wie ein Lothar Fritze in seinem Elser-Aufsatz und wie der bereits erwähnte Rainer Zitelmann. Im Sammelband „Schatten der Vergangenheit“ von Backes, Jesse und Zitelmann sehen sich die Herausgeber, laut Klappentext, als Angehörige einer „jüngeren Generation“, die sich anschicke, die „Tabus“, „Legenden“ und „Mythen“ einer „volkspädagogisch“ und von „Bewältigungs-Ritualen“ besetzten Geschichtsschreibung mit ihrer „wissenschaftlichen Historisierung“ zu brechen. Ihr Ziel: die „Versachlichung der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit“ und dazu „eine betont nüchterne, von moralisierenden Anklängen freie Geschichtsschreibung“.

Der dritte, von der CDU zur Anhörung vor dem Innenausschuss geladene Referent ist …

Prof. Dr. Eckhard Jesse, politisch wie auch wissenschaftlich äußerst umstritten. Jesse, Jahrgang 1948 und jahrelanger Inhaber des Lehrstuhls für „politische Systeme, politische Institutionen“ an der Technischen Universität Chemnitz, studierte Politik- und Geschichtswissenschaften, gefördert durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Er schrieb 1989 an der Universität Trier seine Habilitation – die Lehrberechtigung an Hochschulen – zum Thema „Streitbare Demokratie in der Bundesrepublik. Das Beispiel des Extremistenbeschlusses von 1972“. Diese Habilitation ist über den Bibliotheksverbund der Universitäten nicht beziehbar.Warumdiese Zurückhaltung?

Es existieren aber von ihm zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zu den Themen Extremismus und Totalitarismus – oftmals gemeinsam mit seinem ideologischen Trabanten Uwe Backes. Ob als Gründungsmitglied des fragwürdigen„Veldensteiner Kreises zur Erforschung von Extremismus und Demokratie“ oder als Vertrauensdozent der CSU-nahen „Hanns-Seidel-Stiftung“, ob als Mitherausgeber des „Jahrbuchs Extremismus & Demokratie“, als Redakteur der rechtslastigen Publikation„MUT“, ob als Mitglied der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ oder immer wieder auch als Referent und Ideologe des Inlandsgeheimdienstes, genannt „Verfassungsschutz“ – mit seinem stramm antikommunistischen Blickwinkel versucht sich Jesse als Verfechter von Demokratie und Freiheit darzustellen.

Doch lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:

„Jüdische Organisationen brauchen Antisemitismus in einer gewissen Größenordnung um für ihr Anliegen Gehör zu finden.“

Er bedient das alte antisemitische Klischee, Juden hätten Interesse am Antisemitismus und sie seien für ihn selber verantwortlich.

„Sie (die NPD) ist aggressiv, aber nicht gewalttätig.“

Eine Verharmlosung der Neonazis, die nicht nur dem bundesdeutschen Alltag vieler Menschen, sondern auch zahlreichen Gerichtsprozessen widerspricht.

„Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen der Mordserie der Zwickauer Gruppe und der NPD.“

Eine fatale Fehleinschätzung, bereits einen Tag nach ihrer Veröffentlichung nahm die Bundesanwaltschaft einen früheren NPD-Spitzenfunktionär wegen Beihilfeverdachts an sechs NSU-Morden fest.

„Rechts-und Linksextremisten brauchen mithin einander. Letztlich sind sie also gar nicht daran interessiert, daß die andere Variante des Extremismus, die sie zu bekämpfen vorgeben, gänzlich von der Bildfläche verschwindet. Sie wollen vielmehr das hervorrufen, was sie so heftig attackieren.“

Eine wissenschaftsfreie Behauptung, die die wahren Ursachen und Verortungen von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus an die äußeren Ränder der Gesellschaft verschiebt und somit bedenkliche, realitätsverschleiernde und pseudowissenschaftliche Aussagen verbreitet.

Nach Jesses und Backes Auffassung wird der „Verfassungsschutz in der Bundesrepublik mit einem vergleichsweise hohen Maß an Transparenz betrieben.“

An dieser Stelle sei die Lektüre des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses empfohlen: „Mittelbare Unterstützung“ und „Begünstigung“ rechtsextremer Strukturen wirft der Landtagsausschuss gerade den Verfassungsschutzämtern vor.

Interessant wie der renommierte Publizist Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ die Arbeiten des Professors aus Chemnitz einschätzt:

Er habe ein „ziemlich unkritisches Verhältnis zur rechten politischen Szene“, er sei durch „Bagatellisierungdes Rechtsextremismus aufgefallen“. Den von Jesse und Backes mit herausgegebenen Sammelband „Die Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus“ bezeichnet er als „ein Standardwerk des gemäßigten Geschichtsrevisionismus“.

Der Historiker Prof. Dr. Wolfgang Wippermann aus Berlin erläutert Hintergründe und Entstehungsgeschichte einer Ideologie, die zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität offensichtlich nicht mehr fähig ist.


Hubert Brieden (HB): Herr Wippermann, Sie haben jahrelang zum Thema Totalitarismus, Extremismus, streitbare Demokratie geforscht. Können Sie inhaltlich erläutern, um was es sich da handelt und wie diese Ideologie entstanden ist?

Wolfgang Wippermann (WW): Ja, also, zunächst einmal ist das alles eine Ideologie, d. h. ein vorgestellter Satz, es ist keine Realität. Es basiert auf dem Konzept der „wehrhaften Demokratie“, das nach 1955 erarbeitet worden ist, und das basierte wieder auf der falschen Einschätzung, dass die Weimarer Republik auch durch die Extremisten von links und rechts, sprich: Kommunisten und Nationalsozialisten, zerstört worden ist. Diese These ist falsch. 1933 kam es nicht zu einer Koalition von NSDAP und KPD, zwischen Hitler und Thälmann gewissermaßen, sondern es war eine Koalition aus NSDAP und der DNVP, den Konservativen. Das war eine Art Bündnis. D. h. also die Gefahr, die der Demokratie, den Demokratien droht, geht keineswegs immer von den linken und rechten Rändern des Parteienspektrums aus, sondern die Demokratie kann auch von oben und aus der Mitte der Gesellschaft zerstört werden, und das war auch in der Weimarer Republik der Fall.

HB: Und jetzt ist diese Ideologie ja offensichtlich durch die Geschichte widerlegt worden. Aber wieso kam die dann in den 50er Jahren vor allen Dingen zunächst mal wieder auf und dann später in den 1980er Jahren wieder?

WW: Ja, es war also eine verordnete Ideologie durch den Staat, durch die Politiker, die diese Ideologie – also das mit der Totalitarismus-Theorie – definierten, die im Kern besagt, dass Kommunisten und Faschisten nahezu das Gleiche sind. Und in dem Zusammenhang wurde dann die Extremismus-Ideologie entwickelt, nämlich die Vorstellung, dass das Parteienspektrum in einem Halbkreis sozusagen ist und dass dort die Linken und die Rechten sich angleichen würden. Das ist auf dem Zeichentisch ganz schön nachvollziehbar, nämlich dass die Enden des Halbkreises sich zu einer Art Hufeisen – das ist übrigens nicht meine Idee, sondern die Idee des Kollegen Jesse, die Hufeisentheorie – vereinigen würden. Daraus entsteht dann ein gar nicht existierendes Phänomen: „Extremismus“. „Extremismus“ gibt es gar nicht, gibt es nicht in der Realität, sondern nur in der Vorstellungswelt dieser Politologen. Es ist einfach sozusagen ein Hirngespinst.

HB: Jetzt hatte man ja in den 70er Jahren eher weniger gehört von der Totalitarismus-Theorie. Warum kam das nach der deutschen Wiedervereinigung wieder auf?

WW: Ja, es kam eine Renaissance der Totalitarismus-Ideologie, nämlich um vor allen Dingen eben also den Sieg über den Kommunismus und die DDR – wenn man so will – zu legitimieren mit der Begründung, das war so ähnlich, also Rot ist gleich Braun, und wir müssen beides sozusagen überwinden. Die Staatsideologie der Bundesrepublik war eben die Totalitarismus-Ideologie. Die wurde nun der Ex-DDR gewissermaßen aufgezwungen. In der DDR war die Staatsideologie der Antifaschismus, und an die Stelle des Antifaschismus trat nun der „Extremismus“, die Extremismus-Ideologie.

HB: Eigentlich hätte da doch kein Grund für bestanden, weil ja die DDR zusammengebrochen war – und die Sowjetunion.

WW: Ja, das ist klar, aber solche Ideologien sind ja auch Waffen. Wörter sind auch Waffen, und es konnte mit diesen Waffen sozusagen – ich sag das jetzt mal ganz drastisch – der Anschluss der DDR begründet werden und vor allen Dingen dann der Kampf gegen die – wie sie immer heißen – Nachfolgeparteien der SED, sprich: also die PDS zunächst und dann die Linke. Es ist also eine Waffe vornehmlich natürlich gegen die Linke.

HB: Formal richtet sich ja auch die Totalitarismus-Ideologie gegen die Rechte. Wie war das denn in der Geschichte der Bundesrepublik? Wurden die gleichermaßen dann bekämpft?

WW: Nein, leider nicht, wie wir wissen, und das hat sich ja auch bis in die Gegenwart fortgesetzt. Und das hat auch damit zu tun, dass man immer wieder guckt, also, wenn wir etwas gegen rechts machen, dann muss natürlich auch etwas gegen links gemacht werden. Das ist so ein Strickmuster: zwei rechts, zwei links.

HB: Ich meine, es zeigt sich ja auch in den aktuellen Auseinandersetzungen, zum Beispiel um den Nationalsozialistischen Untergrund, wie er immer genannt wird, dass auf der rechten Seite eigentlich wenig getan wird.

WW: Ja, und das hat nicht nur mit dem Versagen dieser unnötigen Behörde „Verfassungsschutz“ zu tun und mit der Praxis, mit Faschisten zusammenzuarbeiten gewissermaßen, also mit diesen Agenten dort, sondern es hat eben auch damit zu tun, dass die eben nicht nur auf einem Auge blind sind, sondern überhaupt gar nicht die Gefahr erkennen wollen, dass eine Gefahr eben auch aus der Mitte und der Gesellschaft von oben ausgeht. Das heißt, unter dem Vorwand, die Demokratie zu schützen, wird sie immer weiter abgebaut. Und das macht mir mehr Sorgen als irgendwelche NSU-Leute oder dergleichen mehr.

HB: Und Sie meinen, dass eben diese Totalitarismus-Ideologie auch dazu beiträgt, diese Gefahr von rechts nicht zu sehen.

WW: Ja, sicher, man ist begrenzt, man hat Scheuklappen, man ist befangen in diesem Hufeisen-Modell und kann sich gar nicht vorstellen, dass die Gefahren von woanders kommen. Es gibt nicht nur die Gefahr, dass die Demokratie von oben abgebaut wird; ein weiteres Beispiel ist der Islamismus. Da ist man jetzt hilflos. Man kann ihn nicht einfach links verorten, auch nicht rechts verorten. Islamisten sind etwas anderes, und unser Instrumentarium „wehrhafte Demokratie“ scheitert hier einfach, muss scheitern. Das heißt, wir brauchen ein Umdenken. Wir brauchen neue Theorien, neue Praktiken. Was wir nicht brauchen, ist ein weiterer und ein besserer oder verbesserter „Verfassungsschutz“.


Wie äußern sich Jesse und Backes nun zum Thema des Landtagsantrags?

Ein Blick in ihre Veröffentlichungen aus dem Jahr 1989 gibt darüber Aufschluss:

„Das verbreitete Schlagwort `Berufsverbot` verzeichnet krass die Wirklichkeit“, lautet ihre schlichte Grundposition. „Kaum ein Thema hat die innenpolitische Diskussion in den siebziger Jahren so bestimmt wie die Kontroverse um diesen Beschluß“, wobei „Unkenntnis und Gutgläubigkeit“ ausgenutzt worden seien, um „einen irrigen Eindruck von den Abwehrmaßnahmen“ des Staates zu erwecken. Während in den fünfziger Jahren die Landesregierungen zu „insgesamt viel rigideren Maßnahmen“ gegriffen hatten, die damals „geradezu als selbstverständlich“ angesehen wurden, gab es in den siebziger Jahren heftige Proteste, obwohl „die Instrumentarien der streitbaren Demokratie“ ihrer Meinung nach „bisher maßvoll eingesetzt“ worden sind. Demnach „brauche die bundesdeutsche Praxis bei allem bürokratischen Perfektionismus den Vergleich zu anderen westlichen Demokratien“ nach ihrer Auffassung „nicht zu scheuen“. Die `Regelanfrage` sei „hochgespielt worden“.

Und weiter: Schließlich handele es sich bei den abgelehnten Bewerbern lediglich um eine „Quote von weniger als 0,1 Prozent“ und wichtig sei, „daß man Extremisten entschieden bekämpft, auch wenn sie nicht gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen“.

Jesse und Backes beklagen: „Es ist beinahe eine Paradoxie: Der Extremistenbeschluß sollte der Bekämpfung antidemokratischer Bestrebungen dienen; aber exakt das Gegenteil trat ein: Er war ein geradezu klassisches Beispiel für eine keineswegs erfolglose Agitation von (Links-)Extremisten zwecks `Delegitimierung der Verfassungswirklichkeit`. Sie haben es zum Teil verstanden, aus dem demokratischen Lager Unterstützung zu gewinnen“.

Wie konnten nur „die politisch Verantwortlichen so in die Defensive geraten“, fragen sie sich.

Auch wenn die beiden Verfasser davon sprechen, dass „es gewiß …. einzelne Fehlentscheidungen aufgrund der Engherzigkeit der Behörden gegeben“ habe und sie immerhin zu der Erkenntnis gelangen, dass „in vielerlei Hinsicht verfängliche `Gesinnungsprüfungen` nicht dem Wesen freiheitlicher Demokratie“ entsprechen, so ändert dieses nichts an der Tatsache, dass beide als ideologische Kanoniere, als Rechtfertiger und Befürworter der verfassungswidrigen Berufsverbote in Erscheinung getreten sind.

Hierzu noch einmal Prof. Dr. Wippermann:


HB: Sie haben jetzt gerade den Begriff genannt „wehrhafte Demokratie“, andere sprechen von „streitbarer Demokratie“ oder „abwehrbereiter Demokratie“. Was ist darunter zu verstehen?

WW: Ja, das war die Vorstellung, die man also übrigens im Widerstand im Exil entwickelt hatte, vor allem von Sozialdemokraten, die nun einen gewissen Grund hatten, weil sie ja nun keineswegs nur von den Nazis bekämpft wurden, sondern in der Tat auch von den Kommunisten. Die Kommunisten haben die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ beschimpft, aber auch die Sozialdemokraten haben die Kommunisten als „Kozis“ beschimpft. Das war also eine Antwort auf die Sozialfaschismus-These – die natürlich falsch war, indem man eben sagte, Rot ist gleich Braun, und wir müssen dagegen kämpfen – und eben die falsche Einschätzung, die bei den Zeitgenossen vielleicht noch etwas berechtigt war, dass die Demokratie von den Extremisten von links und rechts zerstört worden sei. Das ist allerdings dann von der Forschung widerlegt worden, beziehungsweise eigentlich von der Geschichte. Das ist einfach nicht richtig.

HB: Und die „streitbare“ oder „abwehrbereite“, „wehrhafte Demokratie“ – das war die Theorie, dass man sich gegen rechts und links gleichermaßen wehren muss.

WW: Ja, weil man eben dachte, sie berühren sich dann. Und da gibt es dann eben dieses gar nicht existierende Phänomen „Extremismus“. Das ist einfach ein Taschenspielertrick. Das kann man auf dem Zeichentisch gut malen, also der Halbkreis wird zum Hufeisen, aber das ist einfach Spinnerei.

HB: Dann gibt’s noch einen anderen Begriff, der in dieser Debatte immer wieder auftaucht, das ist der Begriff des „Extremismus“. Könnten Sie dazu noch mal etwas sagen?

WW: Ja, der ist relativ neueren Datums. Also zunächst wollte sich die „wehrhafte Demokratie“ gegen „Linksradikalismus“ und „Rechtsradikalismus“ verteidigen. Und auf dieser Ideologie basierten dann ja auch die sog. „Radikalenerlasse“, die aber nun bekanntlich sich vornehmlich gegen Linke richteten. Dann erkannte man, dass „radikal“ doch eigentlich gar nicht schlimm ist. „Radikal“ heißt „an die Wurzel gehend“. Und dann haben einige Politologen, darunter Backes und Jesse, in enger Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz diesen scheinbar neuen Begriff des „Extremismus“ kreiert und verordnet und dadurch vom Staat, von Steuergeldern finanzierte „Forschungen“ (in Anführungszeichen) betrieben und eben die Verfassungsschutzämter angewiesen, gegen diesen „Extremismus“ vorzugehen. Wobei sie, wie wir nun wissen, eben auf dem rechten Auge ziemlich blind waren und die wahren Gefahren einfach nicht erkannt haben, auch nicht erkennen konnten. Also, es war eine nicht nur falsche Ideologie – Theorie kann man noch nicht mal sagen –, sondern es war eine gefährliche Ideologie.

HB: Sie haben gerade die Professoren Backes und Jesse genannt. Können Sie das für die noch mal konkretisieren in Bezug auf ihre letzte Aussage, dass sie praktisch nicht in der Lage sind, die Wirklichkeit zu erkennen?

WW: Es sind nicht die Einzigen. Man soll die auch nicht überschätzen, und Jesse ist jetzt ja auch pensioniert. Also, es waren Politologen, die Karriere machen wollten, und das hätten sie also vor der Wende mit Sicherheit nicht gemacht. Sie haben damals, auch nach eigenen Aussagen, übrigens bereits mit dem „Verfassungsschutz“ zusammengearbeitet und wurden dann nach der Wende belohnt mit entsprechenden Stellen und mit entsprechenden finanziellen Mitteln und haben dann ganz wesentlich diese – ich sage es noch einmal – Ideologie des „Extremismus“ nicht nur entwickelt, sondern auch verordnet, verordnet in der politischen Bildung und eben auch eingespeist in die Politik und in Zusammenarbeit auch mit dem „Verfassungsschutz“. Der „Verfassungsschutz“ hat eigentlich diese Begriffe, diese Ideologien dekretiert – eine unglaubliche Vorstellung.

Und wenn man dann noch bedenkt, dass sowohl Backes und Jesse in den 90er Jahren zumindest, wenn nicht noch danach, zum äußersten rechten Rand gehörten, indem sie Geschichtspolitik machten, wo es darum ging, mit der Vergangenheitsbewältigung, also der Bewältigung der Geschichte des Dritten Reiches, Schluss zu machen und ein neues rechtes Geschichtsbild zu propagieren – zusammen mit Zitelmann und anderen Neu-Rechten –, so haben sie dort eigentlich auch schon eine eigene rechte Vergangenheit, die sie auch eigentlich mal bewältigen sollten. Das ist aber nicht geschehen. Stattdessen wurden sie eben akzeptiert als – ja – Spindoctors, als Ideologen eben dieser unseligen „Extremismus“- und „Radikalismus“-Ideologie.

Das wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn es nicht – und das muss man nun noch ergänzen – zu Opfern dieser falschen Theorie, dieser Ideologie gekommen wäre. Und das sind die Opfer der „Radikalenerlasse“, die wegen absolut geringfügiger, ganz lächerlicher Sachen bestraft wurden, nicht in den Dienst hinein kamen und jetzt auch – jetzt sind es ja meistens Pensionäre – schwere finanzielle Nachteile haben, was ihre Alterssicherung angeht. Und insofern müsste man jetzt sagen: nicht nur die falsche Ideologie bekämpfen und überwinden, sondern auch die Opfer dieser Ideologie doch entschädigen, anerkennen, dass sie Opfer sind.

Der Niedersächsische Landtag hat das ja bereits getan. Und auch Willy Brandt, der Initiator eigentlich der „Radikalenerlasse“, hat ja bekannt – leider zu spät –, dass das ein Fehler war. Aber wenn es ein Fehler war, dann muss man ihn auch überwinden und eben doch daraus etwas lernen. Und vor allen Dingen und deswegen bin ich auch dafür, dass dieser „Radikalenerlass“ nicht nur überwunden wird, sondern dass den davon Betroffenen – und ich sage bewusst also Opfern – auch eine Art Wiedergutmachung gemacht wird, das heißt, dass zumindest ihnen gesagt wird: „Nein, ihr hattet keine Schuld. Und die Nachteile, die ihr dort habt, dafür müsst ihr doch entschädigt werden.“

HB: Jetzt soll ja im Niedersächsischen Landtag in einer Kommission die Geschichte der „Radikalenerlasse“ oder der Berufsverbote in Niedersachsen aufgearbeitet werden, und die CDU hat im Vorfeld dieser Diskussion im Ausschuss für Inneres und Sport jetzt als „Fachmänner“ eingeladen Jesse und Backes. Wie bewerten Sie das?

WW: Ja, also da kann man wirklich sagen: den Bock zum Gärtner machen und – das ist nun wirklich mal ehrlich von der CDU –, ausgerechnet die absoluten Verfechter dieser falschen Ideologie. Also man lädt die Ideologen ein, um darüber zu beraten. Damit ist natürlich keine neutrale Berichterstattung gewährleistet. Also eigentlich gehören die nicht als Gutachter, sondern gehören als Angeklagte vor den Landtag, denn sie sind wesentlich damit verantwortlich, nicht mit der Durchsetzung der Berufsverbote, aber mit der Begründung der Berufsverbote. Also: sie gehören nicht auf die Gutachterbank, sie gehören auf die Anklagebank.


Die „Initiative der vom Berufsverbot Betroffenen“ in Niedersachsen schlägt für die Landtagskommission zur Aufarbeitung der Berufsverbote unter anderem folgende Wissenschaftler vor:

– den Historiker Wolfgang Wippermann, der sich mit der Ideologiegeschichte, besonders der den Berufsverboten zugrunde liegenden Totalitarismusideologie auseinandersetzt und den wir gerade gehört haben,

– den Historiker Dominik Rigoll, der die Vorgeschichte der Berufsverbote seit den 1950er Jahren erforscht hat,

– den Historiker Josef Foschepoth, der sich mit der Geschichte der Repression in der Bundesrepublik Deutschland befasst, und

– den Juristen Rolf Gössner, der sich seit langem mit der Rolle von Polizei und Geheimdiensten beschäftigt.

Sie könnten eine qualifizierte, neutrale und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema gewährleisten, wie es der politischen und historischen Bedeutung der Arbeit der niedersächsischen Landtagskommission angemessen ist.

AutorInnen: Cornelia Booß-Ziegling, Hubert Brieden, Rolf Günther, Matthias Wietzer

Erstsendung: 29.9.2014, Radio Flora, Hannover

Zu hören ist die Sendung hier:

http://www.radioflora.de/contao/index.php/Beitrag/items/berufsverbote-in-den-1970er-und-80er-jahren-der-niedersaechsische-landtag-stellt-sich-der-geschichte.html