Efrossinia und Stefan C. – Sowjetische Zwangsarbeiter in Hannover

Im Jahre 2006 stieß ich bei Archivarbeiten auf Nikolaus C. Er wurde im September 1946 in Hannover geboren und war nur scheinbar ein normales Nachkriegskind. Wer ihn näher kennenlernt und wem er vertraut, erfährt, daß er neben Deutsch auch ausgezeichnet Russisch spricht. Woher kamen diese Sprachkenntnisse eines Jungen, der in Westdeutschland aufwuchs; einem vom Kalten Krieg geprägten Land, in dem der Antikommunismus grassierte?
Die Eltern des mittlerweile vor der Altersteilzeit stehenden 61-jährigen kamen während der Zeit des Faschismus aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und das nicht aus freien Stücken.

Am 22. Juni 1941 startete die Wehrmacht den Barbarossa-Feldzug gegen die Sowjetunion. Noch im selben Sommer wurde auch die Ukraine besetzt. Die anfangs von einigen Bevölkerungs-teilen als Befreier vom stalinistischen Joch angesehenen Deutschen, entpuppten sich schnell als eine skrupellose Kolonialmacht. Sie plante die Sowjetunion zu deindustrialisieren, zu deurbanisieren und zu reagrarisieren. Das Land sollte als Kornkammer und Siedlungsraum für Deutschland dienen. Der Hungertod von bis zu 30 Millionen der 55 Millionen Sowjetbürger war eingeplant. Der Rest sollte als Sklavenarbeiter für die Ernährung und die Industrie der Deutschen schuften. Erfolgten die ersten Anwerbungen zur Arbeit in Deutschland noch auf mehr oder weniger freiwilliger Basis, so kam es ab 1942 zu brutalen Zwangsrekrutierungen.

 

Die 1911 in Nowaja Sburiewka in der Ukraine geborene Efrossinia C. stammte aus einer Kulakenfamilie, die in den zwanziger Jahren enteignet wurde. Sie war nie zur Schule gegangen und arbeitete als Hausmädchen und Köchin bei verschiedenen Arbeitgebern.
Im Sommer 1942 wurde auch Efrossinia zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert.
Nach längerem Transport mit Aufenthalten in verschiedenen Sammellagern und einem Durchgangslager in Warschau, kam sie in das Kriegsgefangenen-mannschaftsstammlager X D/310 Wietzendorf in der Lüneburger Heide.
Dort mußten bis zur Fertigstellung des Durchgangslagers in Lehrte im Juli 1942, neben Kriegsgefangenen auch Zivilarbeiter eine ärztliche Untersuchung und Entlausung über sich ergehen lassen. Wie die sogenannte Entwesung im Dulag Lehrte vonstatten ging, schildern der Holländer Hermann H. und die Ukrainerin Galyna K. übereinstimmend:

Das Lager bestand aus einer „reinen“ und einer „unreinen“ Seite. Als einzige Verbindung zwischen diesen beiden Seiten befand sich das größte und bedeutendste Gebäude des Lagers: die Entwesungsanlage. Sie bestand aus einer Halle, in der sich die Menschen, Frauen und Männer getrennt, entkleiden mussten. Die Kleidung wurde auf Loren gelegt. Im Haarschneideraum wurden verlauste Menschen ganzkörperrasiert und mit einer stark brennenden Desinfektionslösung behandelt. Danach wurden alle in einen Duschraum geführt. Nach der Dusche wurden sie von den Lagerärzten auf Infektionskrankheiten untersucht. Am Ende konnten die Menschen ihre mittlerweile in Heißluftkammern desinfizierte und entlauste Kleidung in Empfang nehmen und sich wieder anziehen.

Die zynische Logik dieser Prozedur, die von polnischen und sowjetischen Zivilarbeitern durchgeführt werden mußte, war allerdings kein humaner Akt an den Zwangsarbeitern, sondern eine bloße Vorsichtsmaßnahme um die deutsche Bevölkerung vor Infektionskrankheiten zu schützen. Da Zivilarbeiter meistens unter den miserabelsten hygienischen Bedingungen einquartiert wurden, waren die Unterkünfte meist sehr schnell wieder voller Ungeziefer. Die Entlausungsaktion führte sich damit selbst ad absurdum. Sie diente der Schikane und der Erniedrigung der Neuankömmlinge.

Eine im Stalag untergebrachte Außenstelle des Arbeitsamtes, vermittelte die nun entlauste und mit einem Ost-Aufnäher an der Kleidung gekennzeichnete Efrossinia nach Hannover.
Vom 16. September 1942 bis zum 6. April 1945 mußte sie im Stadtteil Ledeburg, bei der Firma „Bode Panzer“ im Entenfangweg 14, Granathülsen an einer Presse fertigen. Diese Arbeit war gefährlich und führte oft zu Unfällen, bei denen den Arbeiterinnen die Hände zerquetscht wurden. Auch die Lebensbedingungen waren erbärmlich.
Da Menschen aus der Sowjetunion in der rassistischen Hierarchie der Nazis ganz unten standen, bekamen sie nur eine minimale Lebensmittelversorgung von 2446 Kalorien, 49 g Fett und 57 g Eiweiß am Tage zugebilligt. Die nationalsozialistischen Machthaber vertraten den Standpunkt, dass ein verhungerter „Ostarbeiter“ sofort wieder aus dem schier unerschöpflichen Arbeitskräftereservoir der okkupierten Staaten ersetzt werden konnte.
Neben dem ewigen Hunger waren Efrossinia auch die kalten Winter im Gedächtnis haften geblieben. Da sie teilweise keine Schuhe hatte und ihre Füße nur mit Lappen umwickeln konnte, litt sie zeitlebens an schwerem Rheuma.
Auch die schweren Luftangriffe vom 29. November 1944 und vom 3. März 1945 auf Hannover hat sie nie vergessen. Beide Male wurde auch das Werksgelände getroffen, wobei 34 Zwangs-arbeiter getötet wurden.

 

Stefan C. wurde 1913 in Bessonowka in Russland geboren. Er kam aus einer armen Bauernfamilie. Ende 1941 wurde er bei einem Gefecht bei Kiew verletzt und kam in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Transport nach Deutschland war er 6 bis 8 Monate im Stalag XI D/321 in Oerbke interniert.
Nikolaus beschreibt seinen Vater als Überlebenskünstler, der es mit Bauernschläue verstand, sich durchs Leben zu schlagen und aus ausweglosen Situationen zu befreien.
Um den unmenschlichen Lebensbedingungen im Stalag zu entgehen – sowjetische Kriegsgefangene wurden zum größten Teil auf die kahle Wiese gesperrt, wo man sie dem Tod durch Hunger, Kälte und Krankheit überließ – meldete er sich freiwillig, als das Arbeitsamt Schweißer für die Firma Prometheus in Hannover rekrutierte. Trotz beruflicher Unkenntnis, arbeitete er dort vom 18. Mai 1942 bis zur Befreiung am 7. April 1945 als Schweißerhelfer und Nieter. Ob das Lager, in dem Stefan untergebracht war, sich direkt auf dem Firmengelände befand, ist nicht mehr rekonstruierbar.

Wie die Ostarbeiter, hatten auch sowjetische Kriegsgefangene unter permanentem Hunger zu leiden. Obwohl ab und an auch mitleidige Deutsche den Hungernden etwas zusteckten,
brach Stefan öfter aus dem Lager aus, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.
Dabei wurde er mehrfach von seinem deutschen Vorarbeiter erwischt, der sich aber als kulant erwies und ihn wohl deswegen „nur“ einmal verprügelte. Der normale Dienstweg wäre eine Meldung an die Gestapo gewesen, die für Stefan eine Einweisung in ein Arbeits-erziehungslager bedeutet hätte (Anzumerken ist hier, das Arbeitserziehungslager – die KZs der Gestapo – in erster Linie für die Disziplinierung von Zivilarbeitern aber auch von deutschen Gefolgschaftsmitgliedern eingerichtet wurden. Um dort auch Kriegsgefangene einliefern zu können, wurden diese kurzerhand aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in den Zivilarbeiterstatus überführt). Ein Aufenthalt in einem AEL unter verschärften Bedingungen, wie längerer und härterer Arbeit, noch kleineren Essensrationen und Folter, sollte zur Abschreckung dienen und Zwangsarbeiter zur Disziplin anhalten. Für die meisten Menschen, bedeutete dies allerdings den Tod. Zwangsarbeiter wurden auch schon für geringere Vergehen, wie das Aufheben eines Apfels von der Straße, erschossen.

Irgendwann zwischen 1942 und 1945 haben sich Efrossinia und Stefan kennengelernt. Ob auf dem Weg vom Lager zur Arbeit oder zurück, oder bei einer von Stefans Organisiertouren, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Wie alle den Faschismus überlebenden, aus der Hölle der Konzentrations-, Kriegsgefangenen- und Zivilarbeiterlager entkommenen Deportierten bekamen auch diese beiden nach der Befreiung den Status „Displaced Person“. Diese entwurzelten Menschen wurden wieder in Lager gesammelt und sollten in ihre Heimatländer überführt werden. Ehemaligen sowjetischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen drohte in ihrer Heimat erneute Zwangsarbeit, da die Stalinregierung sie als Verräter ansah. Aus diesem Grund versteckten sich Stefan und Efrossinia mit Hilfe einer Organisation in einer Hannoveraner Wohnung und entgingen so dem Rücktransport in die Sowjetunion.

Eine, allerdings makabere Anekdote soll bezeugen, dass Stalin wenigstens einem kriegsgefangenen Rotarmisten das Leben rettete, nämlich Stefan: In den Wirren der ersten zwei Monate nach dem Zusammenbruch des Hitlerfaschismus 1945 kam es, wie allerorten auch in Hannover zur Plünderung von Vorratsspeichern durch befreite Zwangsarbeiter und Deutsche.
Auch Stefan und zwei seiner Kameraden beteiligten sich an den Plünderungen und ließen dabei eine Flasche Methylalkohol mitgehen. Da sie der deutschen Sprache unkundig waren und das Flaschenetikett nicht lesen konnten, glaubten sie trinkbaren Alkohol erbeutet zu haben.
Stefan, der nur ein Glas trank und dann aber gebannt eine Rede Stalins zur Befreiung vom Faschismus im Radio verfolgte, erblindete. Seine beiden Kameraden, die den gesamten Methylalkohol getrunken hatten, starben im Krankenhaus. Es fand sich ein Landwirt, der Stefan zwei Wochen lang mit Milch versorgte, so daß er seinen Körper entgiften konnte und sein Augenlicht wiedergewann.

1946 heirateten Stefan und Efrossinia, und im September des selben Jahres wurde ihr Sohn Nikolaus geboren.

Auch noch Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, stieß Nikolaus C. auf Ablehnung, wenn er vor Kollegen oder Bekannten über seine Herkunft sprach. Die aus der Sowjetunion stammenden heimatlosen Ausländer wurden hier als Kommunisten und in der ehemaligen Heimat als Faschisten beschimpft. Seine Eltern blieben zeitlebens staatenlos, also heimatlose Ausländer. Er selber beantragte Ende der Siebziger Jahre die deutsche Staatsbürgerschaft, die er 1981 gegen eine Zahlung von zweieinhalbtausend Mark erhielt.
Ein Grund für den Antrag war, dass besonders aus dem Ostblock stammende heimatlose Ausländer, von den deutschen Behörden misstrauisch beäugt wurden. Reiseaktivitäten in Länder des Ostblocks führten schnell zum Spionageverdacht. Auch Drohungen, ihnen die Papiere abzunehmen und sie im Niemandsland auszusetzen, waren an der Tagesordnung. Das hätte bedeutet, diese Menschen zu lebenden Toten zu machen.
Auf Initiative der sowjetischen Botschaft in der BRD entstanden Vereinigungen wie „Rodina“ in Hannover. Mit Veranstaltungen, bei denen u.a. auch Filme über die Sowjetunion gezeigt wurden, wurde versucht die ehemaligen Zwangsarbeiter zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen.

Als Ende der Neunziger Jahre in den USA Sammelklagen in Milliardenhöhe durch ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter gegen deutsche Konzerne drohten, trat die damalige rotgrüne Bundesregierung die Flucht nach vorne an und gründete per Gesetz die Stiftung, Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Nach zähen Verhandlungen, einigte man sich auf eine Entschädigungssumme von 10,1 Milliarde DM, die je zur Hälfte vom Bund und von der Industrie aufgebracht wurde. Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski bezeichnete diese Summe als „Brosamen vom Herrentisch“. Nach seinen Berechnungen stünde den zur Arbeit für das faschistische Deutschland gezwungenen, mindestens eine Summe von 280 Milliarden DM an vorenthaltenen Löhnen zu. Diese nie ausgezahlten Löhne hätten Deutschland zu dem schnellen Wirtschaftsaufschwung, kurz nach Kriegsende verholfen. Während der Auszahlung wurden, angeblich wegen zu knapper Finanzmittel ehemalige sowjetische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte, sowie Angehörige mittlerweile verstorbener ehemaliger Zwangsarbeiter von der Entschädigung ausgeschlossen. Im Juni 2007 verkündete die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ dann das Ende der Zwangsarbeiterentschädigung. Sie habe 4,4 Milliarden Euro an 1,66 Millionen überlebende Zwangsarbeiter ausgezahlt.
Rudy Kennedy, der in den KZs Buna Monowitz und Mittelbau Dora Zwangsarbeit leisten musste, sieht die Entschädigungssumme als letzte Beleidigung der Opfer an und fürchtet, dass mit der abgeschlossenen Entschädigung und der Einzahlung der Restsumme in einen Zukunftsfond, der Holocaust relativiert und ein Schlussstrich unter diesen Teil deutscher Geschichte gezogen werden solle.

Stefan verstarb am 31.Oktober 1996, Efrossinia am 10. November 2001. Eine Entschädigung für die erlittene Zwangsarbeit haben beide nicht erhalten.

 

 

© Helge Kister, Arbeitskreis Regionalgeschichte e. V.