Am 28. Januar 2004 hielt der Wehrmachtsdeserteur Peter Schilling in der Evangelischen Fachhochschule Hannover (heute Fachhochschule Hannover Fakultät V) einen Vortrag zum Thema „Befehl, Gehorsam, Verweigerung und Zivilcourage“. Peter Schilling, der am 22. Juli 1923 in Lage geboren wurde, hielt noch bis ins hohe Alter Vorträge zum Thema Desertion und war in Sachen Kleinkunst unterwegs. Unter dem Pseudonym Peter d´Almere veröffentlichte er den Lieder- und Gedichtband „Sturm, Drang, Verwunderung“ und unter seinem bürgerlichen Namen die biografische Skizze „Aus anderem Holz geschnitzt“. Er starb am 20. Januar 2009 im Alter von 85 Jahren in seiner Wahlheimat Almere in den Niederlanden.
Befehl, Gehorsam, Verweigerung und Zivilcourage
Da ich nicht weiß, was Sie vielleicht bereits über mich erfahren haben, will ich mich ganz kurz vorstellen. Einige Stichwörter: Ich heiße Peter Schilling, bin 1923 geboren und werde in diesem Jahr also 81 Jahre alt. Ich bin Deutscher von Geburt, lebe seit 1962 als Übersetzer und Dolmetscher in den Niederlanden, habe aber noch immer einen deutschen Reisepass.
Aufgewachsen bin ich als der älteste Junge, Bruder von vier jüngeren Schwestern, in einem Pfarrhaushalt. Das Pfarrhaus befand sich in einem winzigen Dörfchen in der Mark Brandenburg, das den eigenartigen Namen Sauen trug. Dieser Name hat jedoch nichts mit Schweinen zu tun sondern ist slawischen Ursprungs: Sova, was soviel bedeutet wie Eule. Das Pfarrhaus in Sauen war also gewissermaßen unser Eulennest. Es gab in der Nähe auch noch einen Weiler, eine Siedlung an der Spree mit dem appetitlichen Namen Schweinebraten. Auch hier wiederum hat der Name nichts mit einem saftigen Sonntagsbraten zu tun; er ist vielmehr eine Verbasterung des slawischen Swinbrod, und das bedeutet genau das gleiche wie Schweinfurt: Eine seichte Stelle in der Spree, eine Furt, die von Schweinen benutzt wurde. Ein familiärer Witzbold adressierte einmal einen Brief an uns mit der Ortsangabe: “Sauen bei Schweinebraten“. Zum Amtsbereich meines Vaters gehörten im übrigen weitere vier Gemeinden des damaligen Landkreises Beeskow-Storkow. Mein im wilhelminischen Zeitalter aufgewachsener Vater war kaisertreu und ein entschiedener Verächter des Naziregimes, meine Mutter dagegen kümmerte sich nicht um die Politik und die Regierung in Berlin. Das Hauptanliegen meiner Mutter war neben der nicht immer leichten Erziehung von uns Kindern und der Haushaltsführung die Sorge um die Mitglieder der Gemeinde. Mein Vater war nämlich zwar ein sehr geschätzter Prediger, doch absolut kein Seelsorger. Er lebte vor allem in der Welt der Philosophen und klassischen Dichter. Das war also das familiäre Spannungsfeld, das meine Schwestern und mich prägte.
Ich wurde hierher als Zeitzeuge eingeladen, um etwas über „Befehl, Gehorsam, Verweigerung und Zivilcourage“aus der Sicht eines Zeitgenossen zu berichten. Diese Einladung habe ich gern angenommen, da mir diese Thematik seit Jahren am Herzen liegt. Mir kommt es allerdings darauf an, nichtnur über längst vergangene Jahre zu sprechen. Ich bemühe mich viel mehr um einen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Will man jedoch eine solide Brücke schlagen, sind die Fundamente der tragenden Pfeiler von entscheidender Bedeutung. Eines dieser heutigen von mir errichteten Fundamente sind Denkmäler. Man kann ein Thema von verschiedenen Seiten und Einfallswinkeln her angehen. Wenn ich das heutige Thema auf vielleicht – von Ihnen aus betrachtet – unerwartete Weise behandele, ist das meine Sicht in diesem Augenblick. Morgen und vor einem anderen Publikum würde ich das gleiche Thema möglicherweise ganz anders behandeln. Meinen Leitfaden den berühmten roten Faden meines Vortrags habe ich in der letzten Zeit schriftlich formuliert. Ganz frei zu sprechen fällt mir mit zunehmendem Alter immer schwerer. Ich neige zur Vergesslichkeit. Sie müssen mir also verzeihen, wenn mein Vortrag – wenigstens streckenweise – hauptsächlich eine Vorlesung ist. Nach meinem Vortrag werde ich in der anschließenden Aussprache hoffentlich von Ihnen erfahren, womit ich Sie vielleicht gelangweilt habe. Doch ich hoffe ebenso zu vernehmen, was Sie noch mehr von mir wissen wollen. Ich habe ein weit offenes Ohr für alle Fragen und will sie gern nach bestem Wissen und Gewissen beantworten. Ehrliche Fragen verdienen ebenso ehrliche Antworten. Ich halte es für eine wichtige Aufgabe der in Anzahl fortwährend abnehmenden noch lebenden Zeitzeugen, die Fragen der nachkommenden Generation zu beantworten. Doch zugleich ist es eine ebenso wichtige Aufgabe der Nachkommen, Fragen zu stellen.
Der heutige Peter Schilling, der jetzt vor Ihnen steht, ist immerhin gut und gern 60 Jahre älter als der einstige Soldat, der im jugendlichen Alter von 18 Jahren freiwillig zur Wehrmacht ging, weil er sich so gern als ein tapferer Held auf dem Schlachtfeld, dem angeblichen Feld der Ehre, bewähren wollte. Ich war nämlich überzeugt von soldatischen Tugenden, über die ich so viel gelesen und gehört hatte. Auf dem Balkan und im Süden der Sowjetunion lernte ich nach meiner Rekrutenzeit dann aber eine andere schmutzige Wirklichkeit dieses Krieges kennen, die nichts mit ’soldatischen Tugenden‘ zu tun hatte: Parteileute in braunen Uniformen mit vielen goldenen Schnüren, die wir Goldfasane nannten, beherrschten das polnische und russische Hinterland und benahmen sich keineswegs auf anständige Weise. Als ich sie erlebte, begann ich mich zu schämen, weil sie meine Landsleute waren.
Sie herrschten despotisch – im Namen Deutschlands – sie beschlagnahmten, was ihnen gefiel – im Namen Deutschlands – sie plünderten das Land leer – im Namen Deutschlands – sie deportierten Menschen – all das im Namen Deutschlands. In Stalino, Südrussland heute heißt diese Stadt Donezk – sah ich, wie Menschen, vor allem Frauen, alte Leute und selbst kleine Kinder, von Soldaten in meiner, in deutscher Wehrmachtsuniform auf Lkws geprügelt wurden. Es bereitete mir Entsetzen und versetzte mich in rasende Wut, als ich hiervon beim Stadturlaub zufällig Zeuge wurde. „Reg dich nicht auf“, sagte man mir, als ich mich darüber empörte, „das sind doch bloß Juden, die zum Arbeitseinsatz kommen.“ Es waren jedoch nicht nur Parteibonzen und SS-Leute, die sich schurkig benahmen.
Auch bei der deutschen Wehrmacht war nicht alles so edel, rein und gut, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir bekamen in der Kalmückensteppe beim Appell den Befehl: „Es werden keine Gefangenen gemacht!“ Daher wurden bei meiner Einheit, der Kampfgruppe Haudan in Atschikulak, Kalmückensteppe, zwei Gefangene oder Überläufer liquidiert, das heißt ermordet. „Ich habe sie nicht leiden lassen“, erzählte einer, der es getan hatte, recht selbstzufrieden. Er war davon überzeugt, sehr human gehandelt zu haben. „Die wussten gar nicht, was mit ihnen geschah. Wir gaben ihnen noch eine Zigarette und haben ihnen beim Rauchen einen Genickschuss verpasst.“
Im Büchlein von Walter Flex`„Wanderer zwischen beiden Welten“- es war damals berühmt, für uns Schüler war es Pflichtlektüre, doch heute ist es zu Recht weitgehend vergessen – hatte ich irgendwo über den Sinn des Soldatenlebens gelesen: „Rein bleiben und reif werden …“ Wie konnte man rein bleiben in all diesem abscheulichen Dreck?
Ein Jahr später und um einige bittere Erfahrungen reicher kehrte der einstmals begeisterte Kriegsfreiwillige seinen Kameraden den Rücken zu und ging einen eigenwilligen Weg. Über das, was mich damals bewegte und in den Widerstand trieb, könnte ich zur Rechtfertigung allerlei Idealistisches erzählen, was von Ihnen hier kaum zu kontrollieren ist. Ich will es daher in diesem Augenblick lassen. Es gäbe da ganz gewiss noch vieles zu sagen, doch ich weiß nicht, was Sie gern wissen wollen.Sie sind es, die mich und meine Generation in Frage stellen müssen. Stellen Sie also Ihre Fragen im Anschluss an meinen Vortrag.
Vor rund fünfzehn Jahren erfuhr ich erstmals von dem Münchner Fernsehjournalisten Raimund Koplin, der eine Dokumentation über Deserteure vorbereitete, an der ich teilnehmen sollte, dass in Bremen und in Kassel Denkmäler für Deserteure aus dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden wären. Andere wurden damals geplant. Ich habe es mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Ich bin nun einmal einer dieser Deserteure von einst. Denkmäler für uns? Wir gelten doch eher als Steine des Anstoßes, als Feiglinge, als Landes- und Hochverräter, nicht wahr? Jedenfalls wurden wir als solche gebrandmarkt. Da begann ich ernsthaft, über Sinn und Zweck von Gedenkstätten, Monumenten, Denkmälern und Gedenktagen nachzudenken.
Sicher war mir auch schon eher bei der Betrachtung von Denkmälern aller Art gar manches durch den Kopf gegangen. Dafür sind Denkmäler wie auch Gedenktage letztendlich geschaffen: Sie sollen erinnern, zum Denken anregen. Dabei gibt es so vielerlei Stätten der Erinnerung, und jedes persönliche Gedenken ist anders. Für mich waren und sind die eindrucksvollsten und schönsten, die auf natürliche Weise entstanden oder gewachsen sind, beispielsweise uralte Bäume oder Bestandteile einer Landschaft, die als Denkmäler geschützt werden. Erst an zweiter Stelle stehen bei mir die Baudenkmäler, also besondere Gebäude wie beispielsweise Burgen und Schlösser, Kirchen, historische Wohnhäuser oder besonders schöne landwirtschaftliche Gehöfte. Und dann schließlich sind da auch noch die künstlich geschaffenen Denkmäler, die Monumente zur Erinnerung an große Persönlichkeiten oder besonders denkwürdige historische Ereignisse. Das erste derartige künstliche Denkmal, das in meinem Bewusstsein eine Rolle spielt, ist das sogenannte Hermanns-Denkmal bei Detmold.
Ich war damals vielleicht fünf Jahre alt und erinnere mich von diesem Familienausflug in den Teutoburger Wald nur daran, dass ich einen bewaldeten Hügel hinab lief, meine Beine immer schneller mit mir davon rannten, ich sie nicht mehr bremsen konnte und mich schließlich hinstürzend überschlug. Aus schemenhaftem Dunkel, kommt da auch Geschrei, Tränen, tröstende Mutterworte und elterliche Vorwürfe in mein Bewusstsein. Das Hermanns-Denkmal selbst ist dagegen aus meiner Erinnerung gelöscht, nur der Name ist erhalten geblieben. Auch die damaligen Erzählungen unseres geschichtsbewussten Vaters, die mir und meinen jüngeren Schwestern sicher nicht erspart geblieben sind, haben ebenfalls keinen Eindruck bei mir hinterlassen können. Erzählt hat er uns Kindern gewiss so dies und das über die Schlacht im Teutoburger Wald, in der im Jahre 9 unserer Zeitrechnung einige vereinte Germanenstämme unter ihrem Anführer, dem Cheruskerhäuptling Arminius – auch Hermann genannt, daher Hermanns-Denkmal – den römischen Legionen unter ihrem Feldherrn Varus eine zerschmetternde Niederlage beibrachten.
Das Denkmal selbst hat auf mein kindliches Gemüt überhaupt nicht eingewirkt, mich nicht zum Denken und Gedenken angeregt, also bei mir seinen Zweck verfehlt. Was ich über das Denkmal und seinen historischen Hintergrund weiß, habe ich dem Geschichtsunterricht meiner Lehrer an der einstigen Beeskower Mittelschule und am Gymnasium in Züllichau sowie manchen Büchern und Fremdenverkehrsbroschüren zu verdanken. „Varus, gib mir meine Legionen wieder“, diesen entsetzten Ausruf soll der römische Kaiser Augustus gemacht haben, als er von der vernichtenden Schlappe im Teutoburger Wald erfuhr, das weiß ich ebenfalls aus dem Latein- und Geschichtsunterricht.
Auch andere Denkmäler zur Erinnerung an historische Ereignisse haben mich in meiner Jugend kaum beeindrucken können. Irgendwann einmal besichtigte ich das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig. Erbaut wurde es rund hundert Jahre nach der entscheidenden Schlacht bei Leipzig, in der den Heeren unter Napoleon eine bezwingende Niederlage bereitet wurde. Ich weiß nur, dass ich dort war, doch nichts konnte mich beeindrucken und alles versank im Sumpf der Vergessenheit. In Groß-Beeren, südlich von Berlin, entdeckten mein Freund und ich auf einer Durchfahrt zu einem anderen heimatlichen Ziel ein schlichtes, turmähnlichen Gebäude, das an eine andere Schlacht gegen die napoleonischen Truppen im preußischen Befreiungskrieg erinnern soll. Wir betrachteten bei unserem kurzen Besuch die wenigen Ausstellungsgegenstände und verließen diese spärliche Gedenkstätte nach einem Viertelstündchen wieder recht unbeeindruckt.
Ein andermal besichtigte ich das Kyffhäuser-Denkmal, das dem sagenumwobenen Kaiser Friedrich Barbarossa gewidmet ist. Nicht die Spur einer Erinnerung, so als wäre ich nie dort gewesen. Eindrucksvoller und nachhaltiger wirkten auf mich manche Burgen, Stadtbilder, Kirchen, Klöster und Ruinen.
Von der hiesigen Landeshauptstadt Hannover kenne ich nur wenig, daher haben mich die hier sicher ebenfalls vorhandenen Denkmäler bisher nicht beeindrucken können. Die deutsche Hauptstadt Berlin, die ich dagegen aus Vergangenheit und Gegenwart recht gut kenne, hat so mancherlei mir bekannte Denkmäler aufzuweisen, so etwa nicht nur unter vielen anderen die im Wilhelminischen Zeitalter errichtete Siegessäule, vom Volksmund auch spöttisch die Goldelse genannt, und das Brandenburger Tor mit der Quadriga, die im Zentrum der Hauptstadt an die einstigen Siege Deutschlands in den Kriegen gegen die Franzosen erinnern sollen. Da ist auch noch die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit der schlichten Kapelle in dem modernen Turmanbau des Architekten Eiermann. Ich kenne kein Mahnmal, das auf mich eindrucksvoller den mörderischen Wahnsinn des Bombenkrieges verdeutlicht. Dort verweile ich immer wieder bei meinen Besuchen Berlins wenigstens einige besinnliche Minuten.
In Deutschland gibt es nur zwei Gedenkstätten, auf die ich mich sofort besinne, wenn von Orten der Erinnerung und des Gedenkens die Rede ist. Da ist einmal die Gedenkstätte in Seelow nördlich von Frankfurt an der Oder am westlichen Ufer der Oder. Sie erinnert an den nur wenige Tage andauernden Kampf um den dortigen Flussübergang in der Endphase des letzten Weltkrieges. Ein trotzig-protziges Bildhauwerk eines sowjetischen Soldaten in heldischer Pose prunkt auf einem kleinen Hügel. Das allerdings hat auf mich keinen bleibenden Eindruck gemacht – mich jedenfalls nicht erschüttert. Wohl aber die Gestaltung und Aussage in einem bunkerähnlichen Gebäude, flankiert von einigen Kanonen, Stalinorgeln und anderen militärischen Exponaten. Dort wurde mit Fotos und anderen Objekten ein Landschaftspanorama über das Kriegsgeschehen geschaffen, und über eine Video- und Tonanlage erfährt der Besucher Einzelheiten über die verlustreich erzwungene Überquerung der Oder. Mehr als 20.000 sowjetische Soldaten wurden Ende April 1945 von ihren Generälen zu einem willkürlich gewählten Zeitpunkt an einer strategisch unsinnigen Stelle geopfert. Warum? Ehrenhalber! Ein sowjetischer Feldmarschall ich meine, es war General Schukow – soll Stalin nämlich versprochen haben, pünktlich zum 1. Mai sei Berlin mit dem Führerhauptquartier erobert. Um sein Versprechen zu verwirklichen, wurden an dieser strategisch absurden Stelle mit weiter Übersicht der östlichen Oderniederungen von der hoch gelegenen deutschen Frontlinie seine Soldaten von ihm ins deutsche Sperrfeuer gejagt. Dennoch konnte er sein soldatisches Versprechen nicht termingemäß einhalten – die Eroberung Berlins verzögerte sich um einige Tage.
Kaum hundert Kilometer westlich davon gibt es in einem Fichtenwäldchen südlich von Berlin im Dorf Halbe eine Gedenkstätte für die dort bestatteten Überreste von mehr als 20.000 deutschen Soldaten und zahllosen Zivilisten. Die im Kessel von Halbe eingeschlossenen Wehrmachtseinheiten wurden zur Übergabe aufgefordert, doch durften sich im Endkampf um Berlin nicht den Russen ergeben. “Es kommt nicht mehr darauf an, diesen Krieg zu gewinnen, es geht nur noch um unsere Ehre,“ diese markigen Worte werden einem der damaligen deutschen Befehlshaber in den Mund gelegt. In diesem Fall waren es Deutsche, die in dem längst verlorenen Krieg und der schon verlorenen Schlacht um die Hauptstadt Berlin ebenso unsinnig geopfert wurden gemäß der persönlichen Ehrauffassung eines deutschen Offiziers – wie kurz zuvor ihre sowjetischen Kameraden von der Gegenseite. Einige Zeit nachdem ich in Seelow und Halbe war, inspirierten mich meine Gefühle und Gedanken zu diesem Gedicht:
Wald von Halbe
Wieder such ich euch auf im Wald von Halbe
nach einem Jahr oder mehr treibt es mich wieder her,
lausch den Berichten der Namenlosen im sandigen Grund
zwischen den Wurzeln der Kiefern,
tausendfach raschelndes Raunen, und eure Stille
begleiten mich auf meinem Weg durch die lärmende Welt.
Der Sturmwind der Gezeiten hat viele Fährten fortgeweht:
Jungenspuren, jubelnder Ruf, verhaltnes Gekicher
und das Keckern des Hähers, das zwischen den Zweigen hing,
wurde vom Kreischen der Kriegsfurie zergellt,
und der Grund, heute friedlich und still,
durchfurcht von tausend Panzern, ist von Tränen und Blut gesättigt.
Wann treffen wir wieder zusammen am Ufer der Spree,
an einem See auf sandiger Heide, an sonnigem Tag …
Melancholie und Drosselschlag …
Wann treffen wir wieder zusammen?
Vertropfendes Licht zwischen Kiefern und Buchen
und die gefleckte Zartheit von zierlichen Birken
und der Duft des harzigen Hauches
und der bunte Flint,der Feuerstein im Sand
und die große Stille, die stille Größe.
Wann treffen wir wieder zusammen an jenem Hügel, auf jener Heide,
in jenem Wald?
Wieder such ich euch auf zwischen Kiefern und Birken.
Der Wald von Halbe birgt nur Halbe-Wahrheit.
Die andere Hälfte ist Seelow.
Ich balle meine Fäuste und fluche,
verfluche meinen Trübsinn und greife zur Gitarre,
und die Saiten klirren jäh und grell,
synkopisch, ohne Harmonie.
Seelow und Halbe wurden für mich zu einem deutlich zusammenhängenden Symbol für den Irrsinn soldatischer Ehrauffassung beiderseits der Fronten. Felder soldatischer Ehre, Felder militärischer Menschenverachtung. Denkmäler und Gedenkstätten sollen an etwas erinnern. Sie sollen ein sichtbares Zeichen sein, ein Mahnmal für dieses oder jenes Ereignis oder eine historische Persönlichkeit.
Zu bedenken ist allerdings hierbei, dass die meisten solcher Denkmäler aus Gründen aktueller Opportunität von Obrigkeiten errichtet und durch Steuergelder finanziert werden. Doch die ersten Denkmäler für Deserteure in Bremen und Kassel wurden ohne öffentliche Mittel durch Privatinitiativen errichtet, trotz wütender demagogischer Polemik einiger Parteipolitiker und heftiger Proteste der Soldatenverbände. Keine Obrigkeit regte zu diesen Denkmälern an, und keine Steuermittel wurden dafür aufgewendet eine gute Sache. Später kamen an anderen Orten weitere ähnliche Denkmäler dazu, die jeweils erneut erbitterte Diskussionen erregten: Denkmäler für feige Egoisten, für Vaterlandsverräter?
Ich glaube, es ist gut, sich mit der Frage über Sinn und Zweck solcher und anderer Gedenkstätten auseinander zu setzen. Die Absicht des Geldgebers sowie des Auftraggebers, des Machers, des Herstellers, des Bildhauers, ist immer die Erschaffung eines Erinnerungsmales, einer Ehrung, die Bezeugung einer Hochachtung. Doch bei der Gestaltung von Denkmälern und anderen Monumenten gibt jeder Auftraggeber und der beauftragte Künstler dem Mahnmal seinen gestalterischen Inhalt, doch jeder individuelle Betrachter erlebt es aus seinem persönlichen Blickwinkel auf eigene Weise.
So haben mich amüsant beeindruckt und das war gewiss nicht die Absicht der Stifter und Gestalter – beispielsweise auf meinen Fahrten durch Frankreich immer wieder ungezählte pompöse, recht kitschige Kriegerdenkmäler, denen ich in nahezu jeder Gemeinde begegnete. Sie erinnern vor allem an die in den Kriegen gefallenen Einwohner des jeweiligen Ortes, die hier als beispielhafte Helden verehrt werden. Sie, die überall unwillig geopferten Untertanen, haben besseres verdient als schwülstige Geschmacklosigkeiten. Die Namen der überwiegend unbegabten Schöpfer dieser Machwerke sind meist vergessen, ebenso wie auch die Namen der jeweiligen „Helden“, die unfreiwillig auf den Altären ihres Vaterlandes geopfert worden waren.
Gedenktafeln und Gedenksteine an im Krieg gefallene Einwohner sind im übrigen auch in unzähligen deutschen Gemeinden zu finden, nur sind sie oft ein wenig unauffälliger als bei unserem westeuropäischen Nachbarn – vielfach an Außenmauern von Kirchen oder auch vor dem Portal eines Gebäudes. Ist es eventuell eine typisch deutsche Bescheidenheit, die uns an größerer Auffälligkeit unserer Denkmäler hindert? Nein, das glaube ich nicht. Es ist wohl eher eine mühsam erlernte scheue Zurückhaltung. Denkwürdiger erscheinen uns heute andere Opfer, denen in Deutschland Mahnmäler errichtet werden.
Ein Gespräch fällt mir nun wieder ein, das ich vor vielen Jahren einmal mit einem beiläufigen Bekannten hatte. Damals war die Wasserstoffbombe noch neu, eine überwältigende Bedrohung, vor der unzählig viele Menschen zitterten. Dieser Bekannte erklärte – er war sehr gottesfürchtig – dass es in unserer Zeit eben doch nur möglich sei, das drohende Geschick durch Gebete zum Besseren zu wenden. Das tat er, wie er mir bekannte, daher auch fleißig. Und er erzählte, dass er allabendlich zu seinem Herrgott flehte, er möge die Mächtigen mit Erleuchtung segnen, diese Überwaffe, mit der sie ganze Volksstämme zugleich ausrotten könnten, nicht zu gebrauchen. Ich konnte ihm nur wütend entgegen halten, da könne es nur Widerstand geben. Ich wolle so frei sein, auch noch dann, wenn die Überbombe in wenigen Sekunden explodieren könne, wenigstens zum letzten Male meine Faust zu ballen, um diese Bombe und ihre Absender zu verfluchen. Ich erzählte das später einmal im Familienkreis, um meinen Kindern und dabei anwesenden Freunden klar zu machen, dass man in gewissen Situationen nicht sanftmütig und liebevoll sein könne. Mit schicksalsergebenen Gebeten sei die Welt nicht zu verändern und man dürfe ein angeblich „gottgesandtes Schicksal“ nicht demütig hinnehmen. Man muss sich dagegen selbst einbringen oder, um es theatralisch zu sagen, sich selbst in die Waagschale der Geschichte werfen. So entstand mein Gedicht:
Meine Freiheit
Ich beug den Nacken nicht vor der Gewalt!
Ich schreie es den Fürsten ins Gesicht:
Ich beuge mich, auch wenn man mich zerbricht,
selbst vor den Göttern beuge ich mich nicht!
Mein Freiheitsruf in alle Nächte schallt!
Zerbricht man mich, so brech ich frei und stolz.
Noch im Erlöschen funke ich die Glut in alle Nächte,
wie ’s der Sämann tut,
und sie flammt auf, genährt von meinem Blut,
von mir geschürt, von Holz aus meinem Holz.
Mein Kampfruf gellt hinaus in alle Nacht,
dröhnt durch Paläste, zu der Götter Thron.
Die Himmel wanken in dem Jubelton:
Ich schuf mich selbst,
bin Vater und bin Sohn,
bin der ich bin
und hab mich selber so gemacht.
Ich bin, meine ich, keineswegs einer von denen, die rauflustig durch die Weltgeschichte ziehen und keinem Streit aus dem Wege gehen. Ich meine nur, dass es Zeiten der Langmütigkeit und Sanftheit gibt wie auch Zeiten, in denen leidenschaftliches Fechten und streitbereiter persönlicher Einsatz angebrachter sind. Die Frage der Sanftheit oder aufgebrachten Wut ist mitunter nur eine Frage des Temperamentes und der Taktik, nicht mehr und nicht weniger. Ja, ich bin in einer ganz anderen, härteren Zeit aufgewachsen als die junge Generation von heute. Ich habe gelernt, dass das Gesetz des Urwaldes und der Wüste Gültigkeit besitzt, und dass der Mensch immer wieder des Menschen Feind ist. Wieder so ein lateinisches Zitat aus weit zurück liegenden Schülertagen: homo homini lupus. Der Mensch ist für seinen Mitmenschen ein Wolf. Kein schmeichelhafter Vergleich für die Wölfe! Somit wäre, laut klassischer Lateinerweisheit, das raubtierhafte Rudeldasein ein urmenschliches.
Ich rief einmal eine Bekannte eines Bekannten an, eine Amerikanerin, die auch als Übersetzerin tätig ist. Wir waren uns nie begegnet, und so berief ich mich auf unseren gemeinsamen Bekannten, als ich mich telefonisch vorstellte. Sie überlegte einen Augenblick, und dann hörte ich zu meiner Überraschung: „Ach ja, ich weiß schon, Sie sind der deutsche Widerstandsheld.“ Ich musste erst einige Male schlucken und tief Luft holen, ehe ich mich gegen diese schmeichelhafte Unterstellung zur Wehr setzte. Nun war ich unversehens zu einem Widerstandshelden deklariert worden. Dabei war mein Leben damals alles andere als heldisch. Im Gegenteil!
Richtig, als Junge wollte ich so gern ein Held werden. So einer wie Winnetou oder Old Shatterhand oder Lederstrumpf, so eine eindrucksvolle Romanfigur. In der Literatur meiner Jugendjahre waren die Erzählungen voller vorbildlicher Heldengestalten. Doch die Praxis des Soldatenlebens hatte mich dann gelehrt, dass diese sogenannten Heldentaten eine unehrliche, verlogene Konstruktion sind, erdacht von Schreiberlingen, Politikern und Pastoren, ganz gleich, wie man es auch betrachtet. Helden sind vor allem immer die Figuren, die einerseits tot sind – oder doch wenigstens verkrüppelt – und die andererseits dem jeweiligen Regime als vorbildhafte Alibis geeignet erscheinen. Ich möchte weder dies noch das sein – vorläufig bin ich noch sehr lebendig, und irgendwelchen Herrschern will ich keineswegs als Legitimation dienen.
Ich war in meiner Jugend – bin es vielleicht auch noch heute – sehr eigenwillig. Ich hatte Anpassungsschwierigkeiten, neigte zur Aufmüpfigkeit – und das hat sich bis in die Gegenwart nur geringfügig geändert. Außerdem hatte ich eine Erziehung genossen, die mich mehr oder weniger zu trotziger Opposition veranlasste. Bei Unrecht, Gemeinheit und Unmenschlichkeit konnte und wollte ich nicht wegschauen oder diese widerstandslos ertragen. Das war oft ein zwanghafter Trotz, den manche als pathologisch bezeichnen. Dabei war ich, wenn ich ein wenig Zeit zum Nachdenken hatte, oft recht verzagt – ein Angsthase vielleicht. Ich scheute mögliche Folgen meiner oppositionellen Haltung. Aber dann habe ich stets erneut meine Furcht niedergerungen, den sogenannten inneren Schweinehund bekämpft und doch das getan, was ich meinte tun zu müssen. Das kann man wohl kaum als ausgesprochen heldisch bezeichnen.
Ich kann nur sagen, dass ich mich meistens in solchen Momenten recht einsam fühlte, wenn ich das tat, was ich tun musste und das man da oder dort heute gelegentlich als „Zivilcourage“ bezeichnet. Allzu oft habe ich die Anpassungsfähigen beneidet, die anders handeln konnten, die nicht, wie es in der Bibel heißt, „wider den Stachel löcken“. Ich wäre oft nur allzu gern mit der Herde getrottet Schaf unter Schafen – hätte mich lieber eingefügt. Doch meine angeborene oder anerzogene Eigenwilligkeit hinderte mich daran. Ich weiß nicht, warum das so war.
Nach den Ursachen meiner Eigenwilligkeit habe ich gelegentlich gesucht vielleicht zur Rechtfertigung vor anderen oder auch vor mir selbst. Aber die Suche nach einer Antwort auf ein Warum, ist nicht selten das Forschen nach einem verursachenden fremden Zweck, einer Vorbestimmung, nach höherer Gewalt, die außerhalb der eigenen Person gelegen ist. Beim Fahnden nach den Triebfedern seines Handelns oder Unterlassens gerät man dann leicht ins Trudeln oder in die Sackgasse einer angeblich göttlichen Vorsehung.
Eingangs sagte ich: Über das, was mich damals bewegte und in den Widerstand trieb, könnte ich allerlei erzählen, was hier kaum zu kontrollieren ist. Eines jedoch ist gewiss: Empörung, Aufbegehren und ein persönliches Ehrgefühl waren für mich von jeher ein wesentlicher Antrieb. Mein persönliches Ehrgefühl war ein anderes als das der Generäle und sonstigen Machthaber. Es war meine persönliche Auffassung über Ehrlichkeit, Mitmenschlichkeit, Ritterlichkeit, Vorbildlichkeit, Großmut, die mich zum Trotz und zur Aufsässigkeit und Widerstand veranlasste. Dabei fühlte ich mich oft sehr allein und von allen guten Geistern verlassen.
Ich wusste damals nicht, dass es in meinem Vaterland auch andere Menschen gab, die ähnlich fühlten und dachten und schließlich auch handelten wie ich. Ich war nicht ganz so allein, wie ich mich fühlte. Von meiner Sorte gab es mehr, wenngleich ganz gewiss nicht genug. Durch die Jahre hin habe ich versucht, das zarte Pflänzlein, das meine Eltern und manche meiner Lehrer in mir zum Leben erweckt haben und das man Gewissen nennt, weiter zu entwickeln. Es mag vielleicht ererbte Veranlagung sein, die mich zu einer fortwährenden Trotzhaltung bewegt hat. Ich weiß nicht genau, welche Triebfedern es waren und sind. Eigentlich will ich es auch gar nicht ergründen. Manche mögen es als „Zivilcourage“ bezeichnen. Ich mag keine großen Worte und will daher sicher nicht von mir selbst behaupten, dass ich „zivilcouragiert“ bin. Es ist eben ganz einfach so, dass ich meine Augen und Ohren und all meine Sinne nicht verschließen kann – auch nicht verschließen will – und ich mein Handeln und Unterlassen durch meine Wahrnehmungen und persönliche Ehrauffassung bestimmen lasse. So habe ich nach Möglichkeit getan, was mir mein eigenes Gewissen befahl. Bei erkanntem Unrecht darf man nicht tatenlos zuschauen man muss etwas dagegen tun, auch wenn man vielleicht selbst Prügel beziehen wird, auch wenn es vielleicht kaum Aussicht auf Erfolg hat. Das eigene Gewissen war mir immer sehr viel mehr wert als Befehle anderer Menschen. Mein Gewissen bedeutete mir auch mehr als der sogenannte „heilige Fahneneid“. Es war und ist nicht immer leicht, auf das eigene Gewissen zu lauschen und ihm zu gehorchen. Das ist auch heute noch schwer, für die Jungen wie die Alten, und so wird es wohl auch immer bleiben.
Ich hoffe, Ihnen einiges erzählt zu haben, das Ihnen zu ihrer eigenen Orientierung und auf Ihrem weiteren persönlichen Weg durchs Leben nützlich sein kann. Vertrauen Sie Ihrem persönlichen Gewissen mehr als den Behauptungen oder gar Befehlen anderer Menschen, auch wenn es schwer fällt. Zum Abschluss noch ein Gedicht, in diesem Fall nicht von mir sondern von dem in Vergessenheit geratenen deutschen Maler und Dichter Fritz von Unruh, der 1933 emigrierte:
Was ich getan, kann ich nicht bessern,
es lässt das Gewissen sich nicht verwässern.
Ich stehe schuldlos vor meinem Verstand
und spüre des Schicksals zermalmende Hand.
Doch da mein Schicksal mich nicht gänzlich zermalmt hat, stehe ich Ihnen nun gern zur Beantwortung all Ihrer Fragen über meine Vergangenheits- und vor allem Gegenwartsbewältigung zur Verfügung. Nach bestem Wissen und Gewissen.
© Peter Schilling