Stolpersteinverlegung in Neustadt am Rübenberge gescheitert

Helge Kister

Am 1. Oktober 2007 teilte der Arbeitskreis Regionalgeschichte per Presseerklärung mit, dass auf Einladung des Neustädter „Bürgerkomitees Weiße Rose“ vom 8. bis 15. Oktober, Nachfahren der jüdischen Familien Steinberg und Sternheim Neustadt am Rübenberge besuchen würden. Anläßlich dieses Besuchs, der aus Argentinien, Brasilien und der Schweiz angereisten, sollte der Künstler Gunter Demnig für Anneliese, Leo und Marianne Steinberg Stolpersteine verlegen.

Leo Steinberg, am 6. Juli 1872 in Neustadt geborener Kaufmann für Damen- und Herrenbekleidung, zog im Dezember 1937, nach dem er sein Konfektionsgeschäft in der Marktstraße 10 im Zuge von Arisierungsmaßnahmen an Ohlau und Hemme verkaufen mußte, mit seiner Frau Marianne und seiner Tochter Anneliese zunächst nach Hamburg. 1941 nach dem weiteren Zwangsverkauf des Haus- und Geschäftsgrundstücks, emigrierten sie dann mit ihrem bis zu diesem Zeitpunkt in Hannover lebenden behinderten Sohn Willi, über China nach Palästina; Anfang der 1950er Jahre dann von Israel in die USA. Dort starb Leo Steinberg am 8. April 1963 in New York. Seine Frau, die 1886 in Norden geboren wurde, wurde vor ihm beerdigt. Die Tochter, 1912 in Neustadt zur Welt gekommen, verstarb 1983 in New York. Mindestens 22 Neustädter Juden wurden von den Faschisten umgebracht.

Trotz einer Publikation und einer Ausstellung zur Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Neustadt am Rübenberge hat man sich dort mit dem öffentlichen Gedenken immer schwer getan. Seit dem Jahrestag der Reichspogromnacht 1985 weist lediglich eine Gedenktafel auf den ehemaligen Standort der Synagoge in der Mittelstraße 18 hin. Die Inschrift „Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger und an die Synagoge die hier stand. Den Lebenden zur Mahnung“, sei so schwammig gehalten, dass der geschichtsunkundige Leser auch davon ausgehen könne, dass die Neustädter Juden bei einem Leinehochwasser ums Leben gekommen seien, so der Historiker Brieden. Eine seit 1987 von engagierten Neustädter Bürgern geforderte Benennung von Straßen mit den Namen, von antifaschistischen Widerstandskämpfern oder von, von den Nazis ermordeten oder vertriebenen Neustädtern, wurde bis dato vom Stadtrat immer erfolgreich unter den Teppich gekehrt. Erst im Mai 2007 zeichnete sich mit einem einstimmigen Ratsbeschluß, anläßlich des Besuchs der Steinberg-Sternheim-Angehörigen erste Stolpersteine in der Stadt zu verlegen, eine Wende ab. Die Vermittlung mit dem Künstler Gunter Demnig übernahm die Deutsch Israelische Gesellschaft in Hannover.

Der 1947 in Berlin geborene und mittlerweile in Köln lebende Demnig, entwickelte das Gedenkkonzept der Stolpersteine im Jahre 1993. Verlegt wurden diese aus Beton bestehenden Minimahnmale mit einer Kantenlänge von jeweils 10 Zentimetern erstmals 1995. Sie tragen auf der Oberseite eine Messingplakette, die mit dem Namen und den Lebensdaten der, von den Nationalsozialisten vertriebenen oder ermordeten Menschen versehen ist und werden an deren letzten frei gewählten Wohnort bündig in das Pflaster eingelassen.

Sehen die Befürworter dieser Gedenkform, in dem Sich-nach-dem-Stein-beugen, eine Verneigung vor den Opfern, so ist der Stolperstein allerdings für einige Menschen eher ein Stein des Anstoßes. Kritiker wie der ehemalige Hannoveraner Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg oder die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch möchten nicht, dass die Namen der Opfer mit Füßen getreten oder gar bespuckt werden. Allerdings verlegte Demnig seit 1995 ca. 12.500 Stolpersteine in über 270 Städten und Gemeinden; nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile auch in Ungarn. Auch in Österreich wurden in Anlehnung des Projektes des Kölner Künstlers, „Steine der Erinnerung“ verlegt. Sein Terminkalender sei bis 2010 ausgebucht. Allerdings ist dem Autor zur Zeit nicht bekannt, wohin Demnig die Odyssee weiter führen wird.Einen Moment schien es so, als ob sich der Künstler selber in den Kreis der Stolpersteingegner einreihen wollte. Meldete doch die Leinezeitung am 10. Oktober, dass die Stolpersteinverlegung in Neustadt am Rübenberge geplatzt sei. Gunter Demnig habe sich geweigert die Steine zu verlegen, da die drei genannten Personen nicht von den Nazis ermordet worden seien.

Das Bürgerkomitee Weiße Rose sieht die erneute Selektion der verfolgten jüdischen Neustädterinnen und Neustädter, nun nach der Schwere ihrer Schicksale, als Zumutung an und legt dem Stadtrat nahe, auf die Stolpersteine zu verzichten. Auf Nachfrage des Autors, sagte Gunter Demnig, daß ihm der Name Neustadt am Rübenberge unbekannt sei. Auch hätte ihm dazu kein Vorgang für eine Verlegung vorgelegen. Es mache es für ihn keinen Unterschied, ob die Menschen ermordet oder vertrieben worden seien. Dies belegen auch Eingangstext und Terminkalender auf seiner Homepage, der vom 9. bis 14. Oktober Steinverlegungen im Rhein- und Ruhrgebiet vorsieht. Dem gegenüber steht allerdings der Inhalt einer E-Mail von Demnigs Koordinatorin Uta Franke an die Deutsch-Israelische Gesellschaft. Dort schreibt sie: „… Wenn alle überlebt haben, macht Gunter die Steine ungern!!! Überlebende nur in Verbindung mit ermordeten Familienangehörigen!!! …“

Sollte es sich bei der gescheiterten Stolpersteinverlegung wirklich nur um ein Mißverständnis handeln, wie Frank Lehmberg von der Deutsch Israelischen Gesellschaft meint? Eine Tatsache ist allerdings, dass das Konfektionsgeschäft in Neustadt immer noch existiert, aber mittlerweile nur noch von der Familie Ohlau betrieben wird. Ein weiterer Fakt ist, dass ein namentliches Gedenken an die Opfer und eine Entschädigung für die Nachfahren weiter auf sich warten lassen. Laut Stadtrat und Bürgerkomitee Weiße Rose, sollen nun im kommenden Jahr Neustädter Schüler im Rahmen eines Wettbewerbs eine adäquate Lösung für ein Denkmal für die Neustädter Opfer der Nationalsozialisten finden.

Ob und wann diese dann umgesetzt wird, steht allerdings in den Sternen.

Dieser Beitrag wurde am 14.10.2007 im Rahmen des Magazin International auf Radio Flora gesendet.

© Helge Kister, 2007/2009

Nachtrag

Im Jahr 2008 beteiligten sich Neustädter Schülerinnen und Schüler an einem vom Bürgerkomitee Weiße Rose und der Stadt Neustadt a. Rbge. ausgeschriebenen Wettbewerb zur Gestaltung eines Mahnmals. Eine Jury wählte aus den eingereichten Entwürfen drei aus, die für eine Realisierung in Frage kommen.

Einzelheiten zur Geschichte der langen Auseinandersetzung um ein öffentliches Gedenken an die NS-Verfolgten in Neustadt a. Rbge. sowie zum derzeitigen Stand der Realisierung eines Mahnmals für die ermordeten und vertriebenen Jüdinnen und Juden finden sich hier: Dünnes Eis – Latenter Antisemitismus in einer westdeutschen Kleinstadt.

Nachtrag 2014: Da Gunter Demnig nun auch Stolpersteine für diejenigen verlegt, denen die Flucht aus Deutschland gelang, wurden am 27. März 2014 unter Beteiligung vieler Neustädterinnen und Neustädter die ersten sieben Steine verlegt – für Emmy und Martha Rosenstein (beide ermordet) für vier Mitglieder der Familie Steinberg (emigriert) und für Helene Sternheim (ermordet).